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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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glücklich machen und beschützen. Mein sechsundvierzigster Geburtstag stand bevor, auf einmal beherrschte die Tatsache, dass meine Schwester mit sechsundvierzig gestorben war, all meine Gedanken. Ich hatte immer gehört, in der Lebensmitte würde man sich fragen: Was, das soll schon alles gewesen sein? Für mich war es eine andere Frage, die, drei Jahre zuvor aufgeworfen durch den Verlust meiner Schwester, jetzt in meinem Kopf immer lauter wurde.
    Warum darf ich am Leben sein?
    Meine Schwester war tot, und ich lebte. Warum hatte ich »Glück« gehabt, und was sollte ich jetzt damit anfangen?
    Ich musste mit der Rennerei aufhören. Die Antwort auf meine Fragen würde ich nicht in unaufhörlichem Aktionismus finden. Ich musste zur Ruhe kommen und mir die Zeit nehmen, meine beiden Teile wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen – den einen, der im Sterbezimmer meiner Schwester zurückgeblieben war, und den anderen, der im Höchsttempo im Hamsterrad wetzte und dabei doch nur auf der Stelle trat. Eine Verbindung zwischen meinem früheren und meinem jetzigen Leben gab es. Diese Verbindung war meine Schwester. Bei ihr würde ich Antworten finden.
    Ich dachte darüber nach, was wir gemeinsam gehabt hatten. Lachen. Wörter. Bücher.
    Bücher. Je mehr ich überlegte, wie ich zur Ruhe kommen und als ein gesunder, ganzer Mensch aus der Sache herauskommen konnte, desto mehr dachte ich an Bücher. Ich dachte an ein Entkommen. Ich würde nicht wegrennen und fliehen, sondern lesen. Cyril Connolly, ein berühmter Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, schrieb unter dem Pseudonym Palinurus: »Solange das Denken besteht, sind Worte lebendig, wird Literatur zum Ausweg – nicht aus dem, sondern ins Leben.« Genau das sollten Bücher für mich werden: ein Weg zurück ins Leben. Ich wollte in Büchern versinken und als ganzer Mensch wieder auftauchen.
    In den drei Jahren seit dem Tod meiner Schwester hatte ich viel gelesen, aber die Bücher, nach denen ich gegriffen hatte, waren oft eher Qual als Trost gewesen. Der scharfe Schmerz über den plötzlichen Tod ihres Mannes in Joan Didions Das Jahr magischen Denkens verstärkte meine eigene Trauer noch. Wochenlang lenkte ich mich mit den liebenswerten, unglaublich süchtig machenden Tante-Dimity-Krimis von Nancy Atherton ab. Tante Dimity mochte tot sein, aber ihre weisen Ratschläge konnte sie nach wie vor an die Lebenden weitergeben. Wie sehr ich mir eine solche Verständigung mit Anne-Marie wünschte, wie viele Tränen ich darum vergoss!
    Ich las alle Barbara-Cleverly-Romane um Joe Sandilands, weil Anne-Marie sie gelesen und mir ans Herz gelegt hatte. Ich wollte Nähe zu Anne-Marie herstellen, wissen, was sie geliebt hatte, was sie ihres schwer zu erringenden Respekts für würdig erachtet hatte. Ich las eines ihrer Lieblingsbücher aus der Kindheit noch einmal, Danny Dunn and the Homework Machine von Jay Williams und Raymond Abrashkin. Ich besaß ihr Exemplar aus dem Lesezirkel für Schüler, das damals laut Aufkleber fünfzig Cent gekostet hatte, aber mittlerweile, mit »Anne-Marie Sankovitch« in Kinderschrift innen auf dem Umschlag, unersetzbar war. Die letzten Buchseiten waren im Laufe der Jahre verloren gegangen. Ich besorgte mir über das Internet ein neues Exemplar, damit ich es zu Ende lesen konnte.
    Mein ganzes Leben lang haben Bücher mir Beistand geleistet und Weisheit geschenkt. In dem Sommer, bevor ich auf die Oberschule kam, entwickelte ich mich allmählich vom Kind zu dem Menschen, der ich heute bin. Ich hatte zum ersten Mal Liebeskummer, erlebte zum ersten Mal, dass jemand starb, der mir nahestand, und begann zu ahnen, dass es im Leben nicht immer gerecht zugeht. Harriet, Spionage aller Art von Louise Fitzhugh war das Buch, das mich in dieser beängstigenden Übergangszeit begleitete.
    Der Sommer fing damit an, dass meine beste Freundin Carol aus unserem Viertel wegzog. Während der ganzen Grundschuljahre hatten Carol und ich nach der Schule fast täglich miteinander gespielt. Sie war mir schon im Kindergarten aufgefallen, weil sie sich während des Mittagsschlafs auf einem dicken, weichen Badezimmervorleger ausstreckte und nicht wie ich auf einem Flickenteppich, der platt wie ein Pfannkuchen war. Carol erlaubte mir, meine Matte beim Mittagsschlaf neben ihre zu legen und meinen Kopf auf eine der kuschelig weichen Ecken zu betten. Wir wurden beste Freundinnen und gingen jeden Tag zusammen zur Schule und wieder nach Hause. Nachmittags spielten wir bei ihr oder bei mir.

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