Tony Mendez 02 - Eine verräterische Spur
ist?«
»Marissa hat nie über ihn geredet.«
»Nie? Sie beide waren wie Schwestern. Sie muss doch irgendwann wenigstens eine Andeutung gemacht haben.«
Sie schüttelte den Kopf.
»War er hier aus der Gegend?«
»Nein.«
»Im Laufe der Jahre hatte sie aber hin und wieder einen Freund, oder?«
»Ja, das schon«, sagte Gina. »Marissa genoss die Gesellschaft von Männern, und die Männer genossen ihre Gesellschaft. Das gefiel ihr. Männer fühlten sich von ihr angezogen, sie standen regelrecht Schlange vor ihrer Tür. Sie schenkten ihr Sachen – selbst Männer, mit denen sie gar nicht viel zu tun hatte.«
Mendez sah von seinem Notizbuch auf. »Was meinen Sie damit, sie schenkten ihr Sachen?«
»Schmuck, Kleidung, Blumen, alles Mögliche. Die Männer liebten sie.«
»Einer nicht«, sagte Vince. Er griff in seine Jacke, zog ein Polaroidfoto aus seiner Brusttasche und reichte es ihr. Sie streckte automatisch die Hand danach aus. Es war ein Foto von Marissa Fordham, abgeschlachtet und blutüberströmt auf dem Küchenboden.
Gina Kemmer stieß einen Schrei aus, sprang aus dem Sessel auf und ließ das Foto mit einer fahrigen Bewegung auf den Tisch fallen. »Oh Gott! Nein!«, rief sie und stolperte einen Schritt zurück, um dem schrecklichen Anblick zu entkommen. Sie stieß gegen einen Blumenständer und warf den Farn darauf um. Der schwere Topf zerbrach mit einem Knall auf dem Boden, und sie schrie noch einmal auf.
»Das hat ihr jemand angetan, Gina«, sagte Vince.
»Warum zeigen Sie mir das?« Ihr Gesicht ließ Entsetzen, vor allem aber Angst erkennen. »Warum zeigen Sie mir das? Oh Gott!«
»Weil das die Realität ist«, erwiderte Vince ernst. »Das ist die Wahrheit. Das hat jemand Ihrer besten Freundin angetan.«
Alle Farbe war aus Ginas Gesicht gewichen. Sie drehte sich um, beugte sich vor und übergab sich auf den am Boden liegenden Farn.
Vince stand auf, zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und verdeckte damit das Foto auf dem Tisch.
Er legte eine Hand auf Gina Kemmers Schulter, die sich zitternd wieder in den Sessel sinken ließ und hysterisch zu weinen begann.
»Sie sind eine schlechte Lügnerin, Gina«, sagte er ohne Groll, beinahe sanft. »Nicht einmal Sie selbst glauben an Ihre Lügen. Aber Sie haben Angst. Ich denke, Sie haben Marissa ein Versprechen gegeben. Sie wollen es nicht brechen, aber es ist eine schreckliche Last, unter deren Gewicht Sie zittern.
Wenn Sie diese Last von Ihren Schultern nehmen und mir die Wahrheit sagen wollen, rufen Sie mich an, Tag und Nacht.«
26
»Die hast du ja nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst«, sagte Mendez, als sie zum Auto gingen.
»Sie lügt«, sagte Vince. Es hatte ihm keinen Spaß gemacht, so brutal mit Gina Kemmer umzugehen, aber er glaubte, dass er mit dieser Schocktaktik am ehesten bei ihr weiterkam. »Sie muss begreifen, dass sie das nicht tun sollte. Wir können ihr helfen – wenn sie kooperiert.«
Er setzte sich auf den Beifahrersitz. Von den Medikamenten war ihm leicht schwindlig. Mendez nahm hinterm Lenkrad Platz.
»Ein paar der Fotos auf dem Tisch sahen aus, als wären sie vor der Zeit aufgenommen worden, zu der sie Marissa Fordham angeblich kennengelernt hat.«
»Stimmt«, sagte Vince. »Die eine Strandaufnahme, auf der man im Hintergrund den Santa Monica Pier sieht, muss aus den Siebzigern stammen. Der einzige Punkt, in dem sie nicht gelogen hat, ist wohl der, dass sie aus Los Angeles hierhergezogen ist.«
»Das und dass Marissa wie eine Schwester für sie war«, sagte Mendez. »Sie ist ziemlich fertig. Von deinem Polaroid wird sie jahrelang Alpträume haben.«
Für einen Moment hatte Vince ein schlechtes Gewissen. Gina war sicher eine nette junge Frau, die wahrscheinlich nur ein angenehmes, normales Leben führen wollte. Sie hatte gar nicht die Nerven für irgendwelche Lügen und Betrügereien, aber irgendwie hing sie in dieser Sache mit drin.
»Versuch, etwas über ihr Leben in L.A. rauszukriegen«, sagte er. »Ich könnte wetten, dass Marissa Fordham zur gleichen Zeit dort war.«
»Warum dann das Märchen von der Ostküste?«
»Keine Ahnung. Vielleicht gab sie sich gerne geheimnisvoll. In einer neuen Stadt konnte sie von vorn anfangen und sein, wer sie sein wollte. Es ist doch tausendmal interessanter, wenn man von sich behauptet, dass man aus einer reichen Familie aus Rhode Island stammt, als wenn man sagt, dass man in Oxnard aufgewachsen ist.«
»Das stimmt«, sagte Mendez. »Und wenn sie und Gina schon seit
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