1530 - Das Grab-Gespenst
In den nächsten Minuten war sie einfach sprachlos und schüttelte nur den Kopf. Andere Mütter hätten vielleicht getobt, nicht sie, denn sie war von ihrem Sohn einiges gewöhnt. Nur hatte er diesmal keine Frösche oder Würmer mitgebracht, sondern die bleichen Knochen, die von einem Menschen stammten, was sie mit einem schnellen Blick erkannt hatte.
Sie wusste auch sofort, dass die Knochen echt waren, aber derjenige, der sie mitgebracht hatte, der war verschwunden.
»Mickey!«, rief sie laut in die Wohnung hinein. »Komm mal in die Küche!«
»Was ist denn, Ma?«
»Komm zu mir!«
»Sag doch, was du…«
»Ich will, dass du zu mir kommst, verflixt noch mal. Schau dir das hier an.«
Mickey kam, Sie hörte seine schnellen Schritte, und dann erschien der zwölfjährige mit dem roten Haarschopf in der Tür, sah was geschehen war, und grinste.
Emma deutete auf den Fund. »Was ist das?«
»Das sind Knochen.«
»Und weiter?«
Der Junge grinste wieder. »Na ja, Knochen.«
»Das sehe ich auch. Aber ich will von dir wissen, woher du sie hast.«
»Gefunden.«
Emma Kline verdrehte die Augen. »Dass du sie nicht gekauft hast, kann ich mir denken. Wo hast du sie gefunden?«
»Sie lagen beim Brachland.«
»Also am Sumpf?«
»Kann man auch sagen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das kann man nicht nur sagen, das muss man sagen.«
Sie schien ihn mit ihren Blick durchbohren zu wollen. »Aber du weißt auch, dass es gefährlich ist, in das Brachland zu gehen. Da hat es schon genügend Probleme gegeben.«
»Das weiß ich.«
»Eben.«
»Aber ich habe sie gefunden.«
Mickey deutete auf die bleichen Knochen. »Ich musste nicht mal in den Sumpf hinein gehen. Ehrlich nicht. Sie lagen am Rand. Als hätte sie jemand weggeworfen. So ist es gewesen. Ich habe sie dann aufgesammelt.«
»Und was wolltest du damit?«
Mickey hob die Schultern. »Das weiß ich auch nicht so richtig. Erst mal mitnehmen.«
Emma schüttelte den Kopf. Es fiel ihr schwer, die Handlung ihres Sohnes zu begreifen. Und zugleich dachte sie daran, das der Knochenfund so etwas wie ein böses Omen war. Dieses Brachland wie es genannt wurde, hatte es in sich. Da rankten sich alte Geschichten um das Sumpfgebiet, die zum großen Teil der Wahrheit entsprechen sollten.
Was davon stimmte, konnte sie auch nicht sagen, aber die beiden bleichen Knochen waren ein Beweis dafür, dass dort Einiges in der sumpfigen Erde verborgen war und man mit den alten Geschichten nicht falsch lag.
»Darf ich mal fragen, was du mit den beiden Knochen vorhast?«
»Behalten Ma, ich will sie behalten.«
Die Frau verzog das Gesicht. »Wie kann man denn nur auf eine solche Idee kommen?«
»Ja, warum nicht? Ich hätte sie mit in mein Zimmer genommen und sie in das Regal gelegt. Was meinst du, wie die Leute geschaut hätten, wenn sie die Knochen gesehen hätten. Einfach Wahnsinn, sage ich dir.«
»Dir ist doch klar, dass die Knochen jetzt nicht in dein Zimmer kommen?«
»Weiß ich.«
»Und du wirst sie auch nicht behalten. Pack die übrigen Sachen wieder zurück in deine Tasche.«
»Und was ist mit den Knochen?«
»Du kannst sie mir überlassen.«
Mickeys Blick wechselte zwischen seiner Mutter und den Knochen hin und her. »Was willst du denn damit machen, Ma?«
»Das werde ich mir noch überlegen. Und ich sage es dir noch einmal. Bleib weg von diesem Brachland. Dort sind schon zu viele Menschen verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.«
»Ich kenne aber keinen.«
»Das ist auch gut so.«
»Aber da liegen noch mehr Knochen.«
»Bitte?«
»Ja, nicht am Rand, aber wenn man genau hinsieht, kann man sie sehen, glaube ich.«
»Das glaubst du?«
»Ich bin mir nicht so sicher. Ich konnte das nicht genau sehen. Ich bin auf einen Baum geklettert. Da konnte ich besser sehen. Da sah ich hin und wieder etwas Helles schimmern.«
»Und das waren Knochen?«
»Ja, meine ich.«
»Egal, was du meinst oder zu sehen geglaubt hast, mir kommen keine Gebeine mehr ins Haus. Hast du das verstanden?«
Mickey senkte den Kopf. Er kannte den Tonfall der Stimme. Wenn seine Mutter so sprach, meinte sie es ernst. Sich jetzt noch dagegen aufzulehnen, hatte keinen Sinn. Und einen längeren Hausarrest wollte er nicht riskieren.
Vielleicht hätte er mit seinem Vater besser darüber sprechen können, doch der hatte sich vor drei Jahren einfach bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht und sich nie mehr gemeldet.
Er packte das restliche Zeug wieder zurück in die Leinentasche, eine Taschenlampe, ein
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