Das Schiff aus Stein
Flutkunde
Am Grund des trockenen Kanals, der unterhalb des Rochusturms einen weiten Teil der Akademie der Abenteuer durchschnitt, hatte sich eine Gruppe Lehrlinge versammelt und wartete zwischen den verwitterten Mauern auf den nächsten Unterricht.
Aus unerfindlichen Gründen hatte sie Direktor Saurini für Flutkunde hierher bestellt.
Die Wartenden waren Rufus, Filine und No, die neuesten Lehrlinge an der Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten, und Lucy und Ottmar, mit denen sie sich hier angefreundet hatten.
Neugierig sah Rufus sich um.
Rechts und links des Kanalbetts erhoben sich die Rückseiten alter Wohnhäuser. Die Mauern hatten verblichene Farben, in denen tiefe Risse prangten. Ab und zu saß ein schiefer Balkon vor einem Fenster und direkt vor den Häusern führte ein gemauerter Absatz entlang, der fast wie eine alte Hafenmauer wirkte.
»Komisch, so ein trockener Kanal«, meinte No. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum der Unterricht ausgerechnet hier stattfinden soll. Hier ist doch gar nichts.«
»Das stimmt nicht so ganz!« Lucy deutete nach oben und zeigte auf die Hauswände. »Siehst du die Regalbretter da? Die sind alle voll mit Fragmenten. Und über die Leitern, die an den Häusern angebracht sind, kann man dort hochklettern.«
Tatsächlich führten an mehreren Stellen Leitern an den Hauswänden in die Höhe.
No schüttelte verwundert den Kopf. »Habt ihr hier schon mal Unterricht gehabt?«
»Nein«, sagte Ottmar. »Direktor Saurini unterrichtet Flutkunde nicht so oft hier. Und er nimmt auch immer nur sechs Lehrlinge. Warum weiß ich nicht. Lucy und ich wollten uns auch anmelden, doch es waren schon alle Plätze besetzt.«
»Danke auf alle Fälle, dass ihr uns hergebracht habt«, lächelte Filine und ihre tiefgrünen Augen blitzten fröhlich.
»Ach, das war reine Neugier«, grinste Lucy. »Ich dachte, vielleicht ist Meister Saurini schon da und wir würden wenigstens ein bisschen von dem mitkriegen, was ihr hier macht. Aber das war wohl ein Irrtum.« Sie blickte zu einigen alten Holzkähnen, die an einem der Mauervorsprünge festgemacht waren und auf dem trockenen Kanalboden lagen. »Da ist sogar ein großes Floß dabei«, bemerkte sie. »Ihr müsst uns später unbedingt erzählen, wie der Unterricht abgelaufen ist.«
»Klar!«, nickte Rufus. »Wer wohl die anderen drei sind, die heute mitmachen?«
Wie auf ein Stichwort erschienen in diesem Augenblick zwei Köpfe über der Brüstung der Rochusturmbrücke, die den Kanal überspannte. Es waren ein blonder und ein rot gelockter Junge, die auf den Kanal hinabsahen.
»Da ist es, Bent!«, rief der Rothaarige. »Da unten sind sie!«
Der schmale blonde Junge nickte knapp. »Ja, wir sind noch rechtzeitig gekommen, Saurini ist noch nicht da. Los, wir müssen da vorne runtergehen!« Die beiden Köpfe verschwanden wieder hinter der Brüstung.
»Anselm und Bent«, entfuhr es Rufus. »Ausgerechnet die!«
»Wieso?«, fragte Lucy.
»Ach!« Rufus winkte ab. »Es ist nur … na ja, die beiden hängen ständig mit Coralia zusammen. Und Coralia …«
»… nervt meistens!«, vollendete Filine den Satz. »Aber es ist ja nur für heute. Und sie selbst scheint auch nicht dabei zu sein!«
»Hoffentlich«, brummte No.
Rufus, Filine und No hatten mit Coralia und ihren beiden Helfern bisher keine besonders guten Erfahrungen gemacht.
Unruhig sah Rufus sich um. Wenn jetzt auch noch Coralia käme, würde die Freude, mit der er sich auf den Weg zum Unterricht gemacht hatte, wohl nur von kurzer Dauer sein.
Doch stattdessen tauchte aus einem der alten Hauseingänge jemand ganz anderes auf. Der stumme Lehrling Oliver. Seine graublauen Augen wirkten wach und gespannt, als er aus der Tür trat und dann über den Vorsprung locker in das Kanalbett sprang und zu ihnen kam. Er nickte allen zu.
Im nächsten Moment traten auch Anselm und Bent aus einem der Häuser.
»He!«, rief Anselm. »Wieso sind wir denn zu acht? Ich denke, bei Flutkunde hier dürfen immer nur sechs mitmachen! Also, Bent und ich haben uns ganz bestimmt rechtzeitig angemeldet.«
»Jetzt reg dich mal nicht unnötig auf«, sagte Lucy. »Ottmar und ich haben nur Filine, Rufus und No herbegleitet. Wir gehen gleich wieder.«
»Na, dann ist ja gut!« Anselm schlenderte langsam heran und musterte dabei Rufus’ Hirschlederbeutel, der schwer an dessen Gürtel hing. In diesen Beuteln bewahrten die Lehrlinge üblicherweise ihre Fragmente auf, an denen sie forschten, um herauszufinden, von
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