Tore nach Thulien 3 : Ferner Donner (German Edition)
Rand des Reichs
Der Wagen ratterte gleichmäßig und monoton über die schlecht erhaltene, alte Reichsstraße. Das verwitterte Pflaster war nur noch an manchen Stellen vorhanden und vielerorts zwängte sich Gras und Unkraut wuchernd zwischen dessen steinerne Reste. An den Rändern verlief sich die schroffe Kante weitestgehend im Heidekraut und teilweise überdeckte das Grün sogar eine ganze Straßenhälfte. Von den Meilensteinen, die in regelmäßigen Abständen an allen Straßen des Königs angebracht waren und im Herzen des Reichs oftmals reich verziert und gut in Stand gehalten wurden, war hier kaum mehr etwas zu sehen. Oftmals fehlten sie ganz, und nur ab und an zeugten noch zerbrochene und von Flechten überwucherte Stümpfe von den alten Wegmarkierungen. Die Reichsstraße war nicht überall in solch schlechtem Zustand, doch je weiter man sich von den großen Zentren des Reiches entfernte, umso erfolgreicher waren die Versuche der Natur, sich zurückzuholen, was ihr gehörte.
Die Straße verlief von Leuenburg aus zunächst in Richtung Norden, schlängelte sich dann in einiger Entfernung an der Leue entlang nach Nordosten und führte schließlich über eine Brücke in das Leuenburger Becken. Bereits hier war der vernachlässigte Unterhalt deutlich zu spüren, und spätestens hinter der Bergfeste Schwarzenfels, einer alten Zollburg, verwandelte sich die Reichsstraße von einem befestigten, steinernen Damm in einen ausgetretenen und verwilderten Pfad. Dort war vom Glanz und der Stärke des Reichs nicht mehr viel zu erkennen und ein jeder Reisende wusste, dass er am äußersten Rand der menschlichen Zivilisation angekommen war. Es war das nördlichste Ende des Leuenburger Beckens und somit gleichzeitig die Grenze des Einflussbereichs der Kirche und des Königs. Dahinter, wild und ungezähmt, erstreckten sich über viele hundert Meilen die Nordmarken und das Wilderland. Malerische Landschaften und ungebändigte Natur vereinten sich dort zu rauen und zugleich wunderschönen Weiten. Ein ursprünglicher Landstrich, unwirtlich und voller Gefahren, und nur die Wenigsten hatten dort lohnendes Tagewerk zu verrichten.
Berenghor saß, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Beine von sich gestreckt, ausgelassen auf dem Kutschbock und besah sich die Landschaft. In aller Seelenruhe kaute er auf einem Stückchen Heidegras herum, und sein Kopf schaukelte dabei im Rhythmus des Wagens sachte hin und her. Vor einer Woche waren sie von Leuenburg aus aufgebrochen und vorgestern hatte es endlich aufgehört zu regnen. Die dunklen, schweren Gewitterwolken waren über Nacht verschwunden und die Sonne strich nun mit ihren wärmenden Strahlen zaghaft über das Land. Die Brücke über die Leue lag mehrere Wegstunden hinter ihnen und noch zeugte die Landschaft von der schaffenden Hand des Menschen. Noch wechselten sich Felder und kleine Weiler in regelmäßigen Abständen ab, und trotzdem, schon jetzt sah man der Natur ihre beginnende Wildheit an. Die Wälder wirkten größer und dunkler, die Ebenen freier und rauer. Der Norden des Reichs war das Tor ins Wilderland und niemand konnte sich hier oben dessen drohender und gleichzeitig faszinierender Nähe entziehen. Man konnte es nicht wirklich greifen oder nur schwer in Worte fassen, aber es war da. Und Berenghor gefiel es.
Er war froh, endlich wieder dem Trubel einer großen Stadt entronnen zu sein, und auch wenn sein letzter Besuch in Leuenburg eine Menge Fragen aufgeworfen hatte, so genoss er dennoch die ruhige Kutschfahrt und die Schönheit des Landes. Er wollte sich die beschaulichen Tage nicht verderben lassen und Dank der, wider Erwarten, doch ganz passablen Mitglieder der Reise, gelang ihm das bisher auch recht gut. Tristan, der Anführer der Truppe, ging meistens an der Spitze der kleinen Kolonne und die beiden Wachen aus Leuenburg lenkten entweder den Wagen oder machten sich anderweitig nützlich. Berenghors selbst auferlegte Pflicht bestand eigentlich nur darin, den Platz auf dem Kutschbock zu hüten und die Herrin eine feine Dame sein zu lassen.
Von Shachin sah er unter Tags nicht viel. Die Schattenkriegerin machte sich sehr rar, wobei das wohl auch an der ihr zugedachten Aufgabe lag, den Weg weit im Voraus zu erkunden und mögliche Gefahren zu entdecken. Berenghor störte das nicht, eher im Gegenteil. Er konnte die wortkarge, ganz in Schwarz gekleidete Einzelgängerin nicht sonderlich leiden.
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