Totenblick: Thriller (German Edition)
bewahren.
»Junge, komm da weg!«, schrie ihm jemand mit starkem sächsischem Akzent ins Ohr, dann wurde Armin an den Schultern gepackt und derart professionell zur Seite gezogen, als hätte die Person das Gleiche schon hundertmal gemacht.
Die Tram rauschte zentimeterdicht an seinen Schuhspitzen vorbei und erfüllte die Luft mit dem Geruch von heißem Stahl; es kreischte laut und anhaltend. Heiß prasselten die glühenden Funken gegen Armin, brannten auf seiner Haut.
Keuchend versuchte er, sich zu erheben. Der Mann, der ihn von den Schienen gezogen hatte, stützte ihn. »Scheiße«, flüsterte er unentwegt, dabei zitterte er vor Kälte und Schock.
»Ruhig«, sagte der Mann beschwichtigend. »Ruhig.«
Die Tram war inzwischen zum Stehen gekommen, und ein tobender Fahrer sprang aus der Kabine und rannte auf sie zu. Schaulustige an der Haltestelle hielten ihre Handys hoch und filmten oder schossen Aufnahmen. »Hey, du!«, rief er wütend. »Freundchen, das wird teuer. Deinen Ausweis. Sofort!«
Armin war schlecht, die Sicht blieb leicht verschwommen. »Geklaut«, bekam er mühsam heraus und deutete auf die andere Straßenseite. »Gerade eben.«
»Die Scheiße kannste vergessen!«, schrie ihn der Fahrer an und baute sich drohend vor ihm auf. »Besoffener Depp! Her mit deinen …«
»Nur die Ruhe, Herr …«, schritt der Lebensretter ein und las vom Namensschildchen ab, »… Müller. Er kann nichts dafür. Ich habe gesehen, wie er von einem Vermummten einen Tritt bekam. Das war der Auslöser für den Unfall. Der junge Mann kann froh sein, dass er noch lebt.«
»Aha.« Der Fahrer funkelte dennoch aufgebracht mit den Augen. »Trotzdem nicht abhauen. Polizei und Rettungswagen sind unterwegs. Ich habe wegen der Zirkusvorstellung zwei Verletzte in meiner Tram.« Dann wandte er sich wieder um und kehrte zum Gefährt zurück.
»Eine Entschuldigung von Herrn Müller wäre schön gewesen.« Armins Lebensretter schüttelte den Kopf und blickte ihn aus warmen, braunen Augen an, die von einer schwarzen Hornbrille eingerahmt wurden. »Ich verstehe ja, dass er aufgeregt ist, aber …«
Armin übergab sich ein zweites Mal, diesmal aus mehreren Gründen: vom Laufen, von den Treffern mit dem Baseballschläger, vom Alkohol, vor Aufregung und vor Angst, fast unter eine Tram geraten zu sein.
Auch diese unrühmliche Szene wurde sicherlich von Handys festgehalten und stand bald in einem tollen sozialen Netzwerk. Sein Vater würde toben, wenn sich herumsprach, wie er sich in der Öffentlichkeit zum Trottel machte. Am liebsten würde er losheulen, vor Erleichterung und vor Scham. Das Schluchzen tarnte er mit einem Husten.
Armin spuckte aus, wischte heimlich die Tränen von den Wangen und setzte sich. »Danke«, murmelte er unverständlich und sah seinen Retter an.
Er schätzte den Mann auf knapp 60. Er war groß und normal gebaut, trug die silberschwarzen Haare kurz geschnitten. Ein leichter roter Kratzer zog sich vom Kinn abwärts, eine alte Narbe war an der linken Stirn erkennbar. »Ich bin Armin.« Er streckte ihm die Hand hin.
»Lui. Eigentlich Ludwig, aber die meisten nennen mich Lui.« Er lächelte. »Keine Sorge. Das wird schon wieder. Ich kann der Polizei sagen, was ich gesehen habe und dass du nicht freiwillig zwischen den Autos herumgekrochen bist.« Er nahm eine Zigarettenpackung aus der Jackentasche und hielt sie ihm hin. Seine Kleidung war leger wie seine Sprechweise: dunkle Stoffhose, darüber ein offenes weißes Hemd; eine kurze Lederjacke schützte ihn vor der Kühle.
»Nee, danke. Nichtraucher.«
»Sehr gut.« Ludwig steckte sich eine an.
Polizei und Krankenwagen rückten an, die Strecke wurde natürlich wieder gesperrt. Armin machte seine Aussage, so gut er konnte. Das Zittern wollte nicht aufhören, trotz der folienartigen Rettungsdecke, die ihm ein Beamter umgelegt hatte. Ludwig bestätigte stark sächselnd die Ausführungen. Die Frage, ob man seinen Vater benachrichtigen sollte, verneinte Armin. Das würde noch fehlen.
Nach einer Anzeige gegen unbekannt wegen Körperverletzung und dem Rattenschwanz von Forderungen der Leipziger Verkehrsbetriebe sowie einer Inaugenscheinnahme durch die Sanis wurde er von den Gesetzeshütern entlassen. Tramfahrer Müller entschuldigte sich nach wie vor nicht für sein ruppiges Auftreten.
Ludwig bot an, den aufgelösten jungen Mann nach Hause zu fahren, und nervte unterwegs nicht mit tiefsinnigen Gesprächsversuchen oder Beruhigungs-Smalltalk.
In der Katharinenstraße
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