Von Traeumen entfuehrt (eShort)
Kapitel 1
A ls ich sie das erste Mal sehe, halte ich sie für eine potenzielle Selbstmörderin.
Vince und ich patrouillieren am Ufer, als sie uns auffällt: lange, dunkle Haare, die ihr ins Gesicht wehen, weil sie so nah am Rand der Promenade auf dem unebenen Kopfsteinpflaster steht und auf die Seine starrt. Gerade einmal anderthalb Meter steht sie über dem dunklen Fluss. Der starke Winterregen hat ihn anschwellen lassen, und wenngleich ein Sprung aus dieser Höhe eher harmlos wäre, könnten sich unter der rauen Wasseroberfläche gefährliche Strömungen verbergen.
Wir steuern auf sie zu, ich habe die Hand schon ausgestreckt, damit ich sie am Arm berühren kann, um meine Ruhe auf sie zu übertragen. Das ist so ziemlich die einzige »Superkraft«, über die jeder Revenant verfügt (oder, wie Ambrose uns gerne nennt: untote Schutzengel mit einem ziemlich starkem Hang zu Zwangsneurosen.). Doch bevor wir sie erreichen, dreht sie sich um und geht zu einer der Steinbänke, die die Uferpromenade säumen. Dort setzt sie sich hin, zieht die Knie bis unters Kinn und umklammert die Beine mit beiden Armen. Ihr leerer Blick ist auf das andere Ufer gerichtet. Sich hin und her wiegend, laufen ihr Tränen über die Wangen, während wir unbemerkt an ihr vorbeigehen.
»Was meinst du?«, frage ich Vincent, der sich den Schal über Nase und Mund zieht, um sich vor dem kalten Januarwind zu schützen.
»Ich glaube nicht, dass sie springt«, sagt er. »Aber lass uns zur Sicherheit trotzdem in der Nähe bleiben, da vorn bei der Brücke.«
Nebeneinander schlendern wir zur Pont du Carrousel. Selbst die armen Gestalten, die sich sonst regelmäßig des Nachts hierher begeben, um in den Tunneln Schutz zu suchen, haben sich anderswohin verzogen. Heute ist einer der kältesten Tage seit Menschengedenken … oder zumindest, seit ich vor einem Jahrhundert nach Paris gekommen bin.
Wir guten Revenants, auch bardia genannt, wachen über die Menschen und schützen sie vor einem verfrühten Tod durch Selbstmord, Mord oder Unfall. Bei Wetter wie diesem haben wir definitiv wenig zu tun, schließlich bleiben die meisten Leute dann zu Hause. Aber die Kälte macht auch vor Untoten nicht Halt.
In den letzten Tagen haben wir hauptsächlich die wenigen Obdachlosen eingesammelt, die sich noch auf den Straßen herumtrieben, und sie in Heimen untergebracht, damit sie sich keine Erfrierungen holen oder im schlimmsten Fall sogar sterben. Ihren Klamotten nach zu urteilen, ist dieses Mädchen definitiv nicht obdachlos. Davon abgesehen ist sie sogar schön genug, um sich einen Platz auf meiner Liste von Frauen mit Date-Potential zu sichern. Allerdings ist es nicht gerade mein Stil, eine Frau anzugraben, die gerade weint.
Aber was macht sie hier, wenn sie nicht obdachlos ist? Allein an der Seine in dieser beißenden Kälte?
Nachdem wir uns davon überzeugt haben, dass sich kein Schutzsuchender unter die Brücke verirrt hat, drehen wir um und laufen zurück zur Bank. Als wir dort ankommen, ist sie leer. Ein paar Meter entfernt steigt das Mädchen gerade die Stufen zur Straße hinauf. Weil es sonst nichts zu tun gibt, folgen wir ihr in sicherer Entfernung, aber nah genug, um eingreifen zu können, falls sie doch noch die Brücke ansteuert. »Ambrose, guck mal in die Zukunft. Springt die?«, frage ich.
Nee . Ambroses tiefer Bariton nimmt nicht erst den Umweg über meine Ohren, das Wort erklingt gleich in meinem Kopf. Aber die fängt gleich an zu rennen, die Rue du Bac hinunter.
»Wir sollten ihr folgen«, sage ich zu Vincent. »Ihr Verhalten ist auffällig genug, um ein paar weitere Minuten Beobachtung zu rechtfertigen.«
»Ganz deiner Meinung. Außerdem könnte sie sich immer noch vor ein vorbeifahrendes Auto werfen.« Er hört sich besorgt an. »Irgendetwas stimmt ganz offensichtlich nicht mit ihr.«
»Ich schätze mal, da steckt ‘ne schlimme Trennung dahinter«, antworte ich. »So was passiert eben, wenn es zu ernst wird zwischen zwei Menschen. Gefühle werden verletzt, Herzen gebrochen. Manche kapieren das echt nie: Finger weg von festen Beziehungen. Diese Regel hat bei mir oberste Priorität.« Ich reibe die Hände gegeneinander und hauche dagegen, in der Hoffnung, dass ein wenig warmer Atem durch die Wollhandschuhe dringt. »Meine Finger sind Eiszapfen. Und die Straßen sind wie leergefegt. Wieso gehen wir nicht einfach nach La Maison?«
Weichei , stichelt Ambrose.
»Ey, wenn du nicht gerade körperlos wärst, würdest du sofort zustimmen,
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