TotenEngel
reißen.
Ächzend lag er auf dem halb nackten Körper, der sich zuckend unter ihm aufbäumte, während Jacobszoons Hände seinen Kopf mit ungeheurer Kraft festhielten und dann langsam zurückdrängten.
»Bitte!«
Hohl und dumpf drang das Wort durch die glitzernde Haut aufJacobszoons Gesicht. Aus nächster Nähe starrte Van Leeuwen in seine flehenden Augen. Er hielt den Atem an und spürte sein Herz rasen; er spürte es gegen seine Rippen hämmern, während keiner von ihnen sich bewegte. Langsam sanken Jacobszoons Lider herab, das Zellophan bildete eine Höhle in seinem offenen Mund, seine Muskeln gaben nach, sein Körper entspannte sich, und der Commissaris ließ ihn los. Er hielt ihn nur wie einen Sterbenden, hielt einen Sterbenden in seinen Armen, als könnte er ihn trösten. Oder sich selbst.
Er blieb noch eine Zeit lang neben Jacobszoon liegen. Er versuchte wieder, die Tüte vom Kopf des Toten zu lösen, aber es gelang ihm auch diesmal nicht. Er stand auf und ging zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen. Aus dem Panoramafenster konnte man weit über den alten Hafen und das IJ schauen, von einer Seite des Stroms zur anderen, wo sich jenseits des Wassers die Wiesen von Amsterdam Noord erstreckten. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Himmel über der Stadt war jetzt schon hell. Auf den Wellen schimmerte das Licht der noch hinter dem Dunst verborgenen Sonne. Es würde ein schöner Tag werden.
41
Am Sonntag holte der Commissaris sein Fahrrad aus dem Hof, und als er es auf die Straße schob, wartete Doktor Menardi schon vor dem Haus. Sie trug ein roséfarbenes Kleid mit dunkelroten Lackknöpfen, dessen Saum sie mit schwarzen Samtbändern um die Beine geschnürt hatte, damit es nicht in die Kette ihres Rades geriet. Außerdem trug sie lila Knieschoner, weiße Turnschuhe und eine Sonnenbrille, die sie sich ins Haar geschoben hatte. Der Commissaris hatte gefüllte Gurken, eingelegten Stör, gebackene Hühnerschenkel, frisches Weißbrot, gekochte Eier, Obst und eine Flasche Wein in einen Korb gepackt und den Korb auf den Gepäckträger geschnallt.
Sie radelten durch die Stadt und über die Amstel. Auf den Straßen waren vereinzelte Kirchgänger zu sehen. Das Wasser glitzerte im hellen Morgenlicht wie Messing. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, aber es war ein warmer Tag für Oktober. »Wir haben Glück«, rief Doktor Menardi, die vorausfuhr, über die Schulter. »Lange wird es nicht mehr so bleiben.«
Van Leeuwen antwortete nicht, denn sein Atem ging kurz. Das Radfahren strengte ihn an, und er dachte, dass es ihm früher leichter gefallen war. Er hielt den Lenker nur mit einer Hand; den Gips hatte er vor zwei Tagen selbst abgenommen, mit einer Geflügelschere, aber ganz ohne Verband kam er noch nicht aus. Sie ließen die Stadt hinter sich, und nach einigen Kilometern bog Doktor Menardi von der Straße ab, und er folgte ihr. Über einen Feldweg fuhren sie an niedrigen Drahtzäunen entlang, hinter denen Schafe weideten. Der Weg wurde sandig, und sie mussten mit aller Kraft in die Pedale treten, um nicht stecken zu bleiben. Van Leeuwen keuchte; das Hemd klebte ihm am Rücken. Sie erreichten einen Pappelhain, wo sie abstiegen und die Wolldecke ausbreiteten, die der Commissaris zusammengerollt auf seinen Gepäckträger geklemmt hatte.
Am Rand des Hains lag ein kleiner Weiher, gesäumt von Schilf. An der Wasseroberfläche standen schwarzgraue Karpfen. Van Leeuwen und Doktor Menardi setzten sich unter die Pappeln, deren letzte Blätter silbergrün im Wind flirrten. Die fernen Türme, Kuppeln und Dächer Amsterdams waren in einen Dunstschleier gehüllt, der dünner wurde, als die Sonne höher stieg und sich schließlich ganz auflöste. Die Luft roch nach Gras und Rinde, und nur selten trug eine Brise den Geruch von Salz und Jod heran. Am Horizont zogen träge ein paar Wolken über den Himmel.
»Ist es nicht herrlich hier?«, fragte Doktor Menardi, als einige Zeit vergangen war. »An einem Ort wie diesem kann man sich gar nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die ihre Babys ersticken lassen und in Blumentöpfen verscharren.«
Van Leeuwen erwiderte nichts, denn er konnte sich an jedem Ort vorstellen, dass Menschen zu allem in der Lage waren.
»Hat Jacobszoon noch etwas gesagt, bevor er sich das Leben genommen hat?«, wollte Doktor Menardi wissen.
»Die Matthäus-Passion«, antwortete Van Leeuwen, »mit achtundsiebzig Umdrehungen abgespielt.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich bin
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