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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Grace hat sich einfach von nichts und niemandem aufhalten lassen.« Es hatte ihr dort gefallen – sie fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit, und sie wohnte mit einer Bildhauerin zusammen, die ihr Töpfern beibrachte –, aber im Jahr darauf war sie in North Carolina, ohne Erklärung. Vier Karten von dort, eine aus Liverpool mit einem Foto von den Beatles drauf, dann die drei aus Dublin.
    »Sie hatte Ihren Geburtstag in ihrem Terminkalender markiert«, sagte ich. »Ich weiß, sie hätte Ihnen auch dieses Jahr eine geschickt.«
    »Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich.« Irgendwo im Hintergrund stieß ein Vogel einen lauten, sinnlosen Schrei aus. Ich stellte mir vor, wie er auf einer verwitterten Holzveranda saß, umgeben von Tausenden von Meilen Wildnis mit ihren eigenen reinen und gnadenlosen Regeln.
    Ein langes Schweigen folgte. Ich merkte, dass ich meine freie Hand dezent in den Ausschnitt meines Oberteils geschoben hatte, um Sams Verlobungsring zu berühren. Solange die SOKO Spiegel nicht offiziell abgeschlossen war und wir die Nachricht nicht verbreiten konnten, ohne den Kollegen vom DIA ein kollektives Aneurysma zu bescheren, trug ich ihn an einer dünnen Goldkette, die mal meiner Mutter gehört hatte. Der Ring hing zwischen meinen Brüsten, ungefähr an der Stelle, wo das Mikro gesteckt hatte. Selbst an kühlen Tagen fühlte er sich wärmer an als meine Haut.
    »Was ist aus ihr geworden?«, fragte er. »Wie war sie?«
    Seine Stimme war leiser geworden, leicht heiser. Er wollte es unbedingt wissen. Ich dachte an May-Ruth, die den Eltern ihres Verlobten eine Grünpflanze mitbrachte, an Lexie, die Daniel kichernd mit Erdbeeren bewarf, an Lexie, wie sie die Zigarettendose tief in das hohe Gras schob, und ich hatte absolut keine Antwort für ihn.
    »Sie war noch immer ein heller Kopf«, sagte ich. »Sie schrieb an ihrer Doktorarbeit in englischer Literatur. Sie ließ sich noch immer von nichts und niemandem aufhalten. Ihre Freunde liebten sie, und sie liebte ihre Freunde. Sie waren glücklich zusammen.« Trotz allem, was die fünf sich am Ende gegenseitig angetan hatten, glaubte ich das wirklich. Ich glaube es noch immer.
    »Ganz mein Mädchen«, sagte er geistesabwesend. »Ganz mein Mädchen … «
    Er dachte an Dinge, von denen ich nichts wissen konnte. Nach einer Weile holte er rasch Atem, tauchte aus seinen Gedanken auf. »Aber einer von ihnen hat sie getötet, nicht wahr?«
    Er hatte lange gebraucht, um diese Frage zu stellen. »Ja«, sagte ich, »das stimmt. Wenn es überhaupt ein Trost ist, er hat es nicht mit Absicht getan. Es war nicht geplant, absolut nicht. Sie hatten einen Streit. Er hatte zufällig ein Messer in der Hand, weil er gerade den Abwasch machte, und er hat die Beherrschung verloren.«
    »Hat sie leiden müssen?«
    »Nein«, sagte ich. »Nein, Mr Corrigan. Der Pathologe sagt, ehe sie das Bewusstsein verlor, hat sie höchstens gemerkt, dass sie schlecht Luft bekam und ihr Herzschlag beschleunigt war, als wäre sie zu schnell gelaufen.« Sie ist friedlich eingeschlafen, hätte ich fast gesagt, wenn da nicht ihre Hände gewesen wären.
    Er sagte so lange nichts, dass ich mich schon fragte, ob die Verbindung unterbrochen oder ob er weggegangen war, einfach den Hörer hingelegt und den Raum verlassen hatte, ob er irgendwo draußen an einem Geländer lehnte und tief die wilde, kühle Abendluft einatmete. Die ersten Kollegen kamen aus der Mittagspause zurück, Schritte stapften die Treppe hoch, auf dem Flur schimpfte irgendwer über Papierkram, Mahers dröhnendes aggressives Lachen. Beeilen Sie sich, wollte ich sagen, wir haben nicht viel Zeit.
    Schließlich seufzte er, ein langgezogenes, langsames Hauchen. »Wissen Sie, woran ich immerzu denken muss?«, sagte er. »An den Abend, bevor sie weggelaufen ist, das letzte Mal. Wir saßen nach dem Essen auf der Veranda, Gracie nippte dann und wann an meinem Bier. Sie sah so wunderschön aus. Mehr wie ihre Mum als je zuvor: gelassen, ausnahmsweise mal. Sie hat mich angelächelt. Ich hab gedacht, das hieße … na ja, ich hab gedacht, sie wäre endlich zur Ruhe gekommen. Hätte sich vielleicht in einen von den Cowboys verknallt – so sah sie nämlich aus, wie ein junges Mädchen, das sich verliebt hat. Ich hab gedacht: Sieh dir unsere Kleine an, Rachel. Ist sie nicht hinreißend? Sie hat sich doch noch berappelt. «
    Seltsame Dinge flatterten plötzlich in meinem Kopf, zart wie schwirrende Falter. Frank hatte ihm nichts erzählt: nicht von dem

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