Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
Vom Netzwerk:
glaube, Frank ging davon aus, dass ich die Aufnahmen vernichten würde, das Band abspulen und durch den Schredder jagen – ich hab keinen, aber ich wette, er hat einen. Stattdessen kletterte ich auf die Arbeitsplatte in der Küche, holte den Schuhkarton mit meinem offiziellen Kram herunter und legte die Kassette hinein, zu meinem Pass und meiner Geburtsurkunde und meinen ärztlichen Unterlagen und Visa-Abrechnungen. Ich will sie mir anhören, irgendwann mal.

26
    Einige Wochen nach Abschluss der SOKO Spiegel, als ich mich noch immer mit dem Papierkram herumschlug und darauf wartete, dass irgendwer irgendwo eine Entscheidung traf, rief Frank an. »Ich hab Lexies Dad in der Leitung«, sagte er. »Er möchte mit dir sprechen.« Ein Klicken, dann war er weg, und das blinkende rote Lämpchen an meinem Apparat signalisierte, dass ich einen Anruf in der Warteschleife hatte.
    Ich schob Schreibtischdienst im DHG. Es war Mittagspause, ein ruhiger Sommertag mit blauem Himmel. Alle anderen waren nach draußen gegangen und lagen sicherlich im Stephen’s Green auf dem Rasen, die Ärmel hochgekrempelt in der Hoffnung, etwas Bräune abzukriegen, aber ich ging Maher aus dem Weg, der andauernd mit seinem Stuhl näher rückte und mich verschwörerisch fragte, was das für ein Gefühl sei, einen Menschen zu erschießen, daher erfand ich an den meisten Tagen dringenden Papierkram und ging dann sehr spät in die Pause.
    Am Ende war alles ganz einfach gewesen: Auf der anderen Seite des Globus war ein junger Cop namens Ray Hawkins eines Morgens zur Arbeit gefahren und hatte seine Hausschlüssel vergessen. Sein Dad hatte sie ihm aufs Revier gebracht. Der Vater war Detective im Ruhestand, und er hatte automatisch einen Blick auf das Anschlagbrett im Eingangsbereich geworfen – Warnhinweise, gestohlene Autos, Suchmeldungen –, während er Ray die Schlüssel übergab und ihn daran erinnerte, nach Dienstschluss Fisch fürs Abendessen zu besorgen. Und dann hatte er gesagt, Moment mal, die Frau da kenn ich irgendwoher. Danach hatten sie lediglich die Vermisstenakten der letzten Jahre durchgehen müssen, bis ihnen das Gesicht entgegensprang, ein letztes Mal.
    Sie hieß Grace Audrey Corrigan, und sie war zwei Jahre jünger als ich gewesen. Ihr Vater hieß Albert. Er hatte eine kleine Rinderfarm namens Merrigullan, irgendwo in den riesigen namenlosen Weiten im Westen Australiens. Er hatte seine Tochter seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen.
    Frank hatte ihm gesagt, ich sei die Kollegin, die mit dem Fall am meisten zu tun gehabt, ihn schließlich aufgeklärt hätte. Zuerst fiel es mir schwer, mich in seinen starken australischen Akzent einzuhören. Ich rechnete mit unzähligen Fragen, aber er fragte mich gar nichts, zunächst nicht. Stattdessen erzählte er mir Dinge, die ich ihn nie hätte fragen können. Seine Stimme – tief, ein wenig rau, die Stimme eines kräftigen Mannes – hatte einen langsamen Rhythmus, mit großen Pausen, als wäre er es nicht gewohnt zu reden, aber er redete lange. Er hatte dreizehn Jahre lang Worte aufgespart, während er darauf wartete, dass dieser Tag ihn heimsuchte.
    Gracie sei ein wunderbares Kind gewesen, sagte er, als sie klein war. Ein messerscharfer Verstand, sie hätte mit Leichtigkeit ein Studium geschafft, aber sie sei nicht interessiert gewesen. Richtig häuslich sei sie gewesen, sagte Albert Corrigan. Mit acht Jahren habe sie ihm erklärt, sobald sie achtzehn wäre, würde sie einen von den Cowboys heiraten, damit sie beide die Farm übernehmen und sich um ihn und ihre Mum kümmern könnten, wenn sie alt wären. »Sie hatte alles bis ins Kleinste geplant«, sagte er. Trotz allem schwangen die Reste eines alten Lächelns in seiner Stimme mit. »Sie meinte, in ein paar Jahren sollte ich anfangen, das mit zu bedenken, wenn ich neue Leute einstellte – ich sollte nach jemandem Ausschau halten, den sie heiraten könnte. Sie hat gesagt, große Blonde würden ihr gefallen, und Männer dürften auch ruhig mal laut werden, aber sie könnte es nicht leiden, wenn sie sich betranken. Sie hat immer gewusst, was sie wollte, Gracie.«
    Aber als sie neun war, hatte ihre Mutter bei der Geburt von Grace’ kleinem Bruder so starke Blutungen bekommen, dass sie starb, ehe ein Arzt eintraf. »Gracie war noch zu klein, um so etwas zu hören«, sagte er. So schlicht und schwer, wie sich seine Stimme senkte, wusste ich, dass er das zahllose Male gedacht hatte, dass es ihm eine tiefe Furche in die Seele gegraben hatte. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher