Totenreise
Hosentasche? Wahrscheinlich rauchte er gerade, als man ihn umbrachte.«
Sie blickte sich um; vielleicht hatte sie ja Glück und fand sogar die Kippe.
»Das passt zum Hergang«, sagte Marcel. »Möglicherweise hat er sich draußen auf dem Balkon die Zigarette angezündet und ist bei einem Angriff auf die Straße gestürzt.«
»Wer greift einen schon in der eigenen Wohnung an? Das ist merkwürdig.«
Marguerite blickte wieder zu den Fenstern hinauf.
»Die Freundin? Die Liebhaberin?« Marcel klang nicht sehr überzeugt. »Vielleicht handelt es sich hier um einen Fall von häuslicher Gewalt.«
Er ging in die Hocke, um erneut die Wunde zu betrachten.
»Die Ränder der aufgerissenen Haut … Die Klinge der Tatwaffe muss ziemlich ungleichmäßig gewesen sein«, stellte er fest. »Der Angriff wurde jedenfalls nicht mit einer konventionellen Waffe ausgeführt.«
»Womit ist er dann getötet worden?«, fragte Marguerite. »Ich hoffe, du denkst dabei nicht an Vampire oder Ähnliches, das hier sieht um einiges banaler aus.«
Marcel, der ihre Stichelei ignorierte, hätte ihr gern geantwortet, dass die Verletzung von langen, scharfen Fingernägeln verursacht worden war. Doch er ließ es bleiben.
Marguerites Blick wanderte zu den benachbarten Häusern, die um diese Uhrzeit dunkel und still dalagen.
»Jules Marceaux wohnt ganz in der Nähe«, bemerkte Marcel, »der Gastgeber der Halloweenparty in der Nacht der Tragödie.«
»Zufall?«, wollte sie wissen.
»Was meinst du?« Marcel wollte nicht zu deutlich werden, obwohl er eine eindeutige Meinung dazu hatte.
»Dieser Mord hat außer dem Stadtteil nichts mit denen von Delaveau und den beiden Jugendlichen gemeinsam«, sagte er bestimmt. »Aber bevor wir nicht die Wohnung des Opfers gesehen haben, können wir nichts Genaues sagen.«
Ein Polizeibeamter kam auf sie zu.
»Wir mussten mehrere Familien wecken und haben mit allen gesprochen«, teilte er mit. »Niemand hat etwas gehört oder gesehen. Und es wird auch niemand vermisst. Bleibt nur noch eine Wohnung, wo niemand aufgemacht hat. Sollen wir gewaltsam eindringen? Die Wohnung«, er zeigte nach oben zu einem schwachen Lichtschein, »gehört zu diesem erleuchteten Fenster.«
»Na gut«, sagte Marguerite, »anscheinend kommen wir der Sache langsam näher.«
»Gehen wir hinauf«, schlug der Gerichtsmediziner ungeduldig vor.
»Ja, hier sind wir fertig. Außerdem kommt gleich der diensthabende Richter, um den Toten freizugeben.« Sie wandte sich an den Polizisten. »Haben Sie schon mit demjenigen gesprochen, der die Leiche gefunden hat?«
»Ja, Madame. Man hat seine Aussage zu Protokoll genommen.«
»Dann gehen wir hinauf. Und wenn nötig, brechen wir die Tür auf.«
***
Zum Glück waren Jules’ Eltern bei der Hochzeit in Fontainebleau. Sonst wären sie bei den Schreien ihres Sohns erschrocken auf den Dachboden gestürzt. Inzwischen hatten Daphne und die beiden Jungen die Situation in den Griff bekommen, und es war wieder Ruhe eingekehrt. Allerdings eine höchst gespannte Ruhe.
Noch immer schöpften alle drei nach Atem, der Angriff des Vampirs hatte höchstens eine Minute gedauert, doch ihnen war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Alles war schlagartig anders, seit das gefürchtete Monster tatsächlich aufgetaucht war. Durch das zerbrochene Glas des Dachfensters wehte ein kalter Wind herein. Sie erholten sich langsam von ihrem Schrecken und fühlten sich zugleich hilflos und ausgeliefert. Bevor es nicht hell wurde, konnten sie diesen Boden nicht verlassen. Und der Vampir konnte jeden Augenblick zurückkommen, sich auf sie stürzen und ihnen seine Zähne in den Hals schlagen.
Allerdings – nicht durch dieses Fenster! Von dort aus konnte er, wie er es versucht hatte, nur einen von ihnen an sich reißen, der sich unmittelbar dem Fenster näherte. Um auf den Dachboden selbst zu kommen, musste er eingeladen sein. Wenn sie also vorsichtig waren, sich nicht täuschen ließen, konnte er ihnen nichts anhaben.
Jules ging zwischen den Möbelstücken und Koffern hin und her und rieb sich den schmerzenden Kopf. Er war noch am Leben, dank Dominiques schneller Reaktion, die es Daphne ermöglicht hatte, zum Gegenangriff überzugehen. Mit einem gewissen Groll blickte er zu der großen Truhe. Sie hatte einen Traum für ihn wahr gemacht, der langsam zum Albtraum wurde.
»Aber alles hat seinen Preis …«, dachte er.
Nachdem die Wahrsagerin erleichtert festgestellt hatte, dass Jules unverletzt war, hatte sie sich erschöpft in ihren
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