Totenreise
»Hast du ihn schon befragt?«
»Nein. Der Kerl weicht aus. Heute Abend ist er mir entwischt, aber morgen wird ihm das nicht so leicht gelingen … sofern er unterrichtet. Ansonsten werde ich die Kollegen auf ihn hetzen. Falls er irgendetwas mit den Morden zu tun hat, werde ich ihn kriegen.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Richtig zu befriedigen scheint dich die Sache aber nicht«, stellte Marcel fest.
»Wie gesagt, ich hatte ein Treffen mit Varney vereinbart, er ist nicht gekommen. Ich wäre beruhigter, wenn ich ihn hätte befragen können und vor allem, wenn ich wüsste, wo er jetzt ist. Glaubst du, dass es heute Nacht ein viertes Opfer gibt?«
»Daran will ich gar nicht denken. Mal nicht den Teufel an die Wand. Was weißt du über den Kerl?«
Marguerite zuckte mit den Schultern.
»Kaum etwas. Scheint ein ganz normales Leben zu führen. Ich habe unsere Datenbank durchsucht … Nichts. Es gibt keine Vorstrafen, kaum einmal einen Strafzettel.«
»Gib nicht auf«, empfahl ihr Marcel. »Die großen Mörder hatten nie Vorstrafen. Bis sie schließlich geschnappt wurden, erst dann wurden sie mit früheren Verbrechen in Verbindung gebracht. Vielleicht ist es hier ähnlich.«
»Hoffentlich, denn wenn nicht …«
Das Klingeln des Telefons unterbrach sie. Marguerite blickte auf die Uhr, bevor sie den Hörer abnahm. Ein Anruf um diese Zeit?
»Ja bitte?« Marcel blickte sie gespannt an. »Warum rufen Sie mich an, wenn es sich um einen Selbstmord handelt? Aha, es ist also in meinem Bezirk passiert, in der Nähe der Madeleine … Die Kehle durchgeschnitten? Dann ist es doch kein Selbstmord!«
Marcel Laville war bereits aufgestanden. Das Spiel begann, und er ahnte, dass der Mörder nicht weit war.
Nein. Der Vampir würde heute Nacht kaum zu seinem Grab zurückkehren, nicht, bis er sein Ziel erreicht hatte.
***
Die drei sahen sich an und verharrten schweigend. Seit der Unterbrechung hatten sie nichts mehr von Pascal gehört, und das Problem war, dass sie nicht wussten, wie sie das verstehen sollten. War es ein gutes Zeichen oder genau das Gegenteil? Womöglich war ihm tatsächlich etwas zugestoßen, wie Daphne es befürchtet hatte. Ja, das war unter den gegebenen Umständen nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Doch sie hatten keine Gelegenheit, es herauszufinden, und sie versuchten, jeder vor dem anderen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Ungewissheit quälte.
Ganz zu schweigen von dem Vampir. Die Gefahr, dass er jeden Moment hier bei ihnen auftauchte, gehörte zu Daphnes vagen Ahnungen, und beinahe wünschten sie sich, dass es endlich passierte, damit sie etwas unternehmen konnten.
Die Wahrsagerin ließ ihren Blick über den Dachboden gleiten und prüfte zum zigsten Mal die Sicherheitsvorkehrungen. Ihr Blick blieb an der wollenen Decke hängen, mit der sie das Oberlicht verhängt hatten. Erneut hatte sich eine Ecke gelöst und hing herab.
Sie deutete nach oben. »Jules, könntest du das bitte wieder in Ordnung bringen? Ich will gar nicht daran denken, wie gut man das Licht von draußen sehen kann.«
»Klar!«
Jules ging zum Fenster und packte die lose Ecke, um sie wieder festzustecken. Doch er kam nicht dazu.
Plötzlich zersprang laut klirrend das Glas, von draußen schoss ein Arm hindurch und packte unter dem Scherbenregen Jules an der Brust und riss ihn hoch, als würde er nur ein paar Gramm wiegen.
Jules begann wie ein Verrückter zu schreien, während er in die Dunkelheit hinausgezogen wurde, doch dann verschloss ihm eine eisige Hand den Mund.
Daphne und Dominique reagierten so schnell wie möglich. Dominique raste zu seinem wild zappelnden Freund und umklammerte seine Beine. Daphne hängte sich ebenfalls an ihn, und gemeinsam zogen und zerrten sie aus Leibeskräften.
Doch es half nicht viel. Varney, der nun vor ihnen in dem zerborstenen Fenster auftauchte, hatte Jules an den Haaren gepackt und bog seinen Kopf zurück. Er näherte bereits seine Fangzähne dem Hals des Jungen, als Daphne geistesgegenwärtig ihr Amulett emporhielt.
Der Vampir fauchte, als er das heilige Objekt sah, und zog sich eilig zurück. Trotzdem hatte Daphne mitbekommen, dass die flinken Augen des Monsters die Dunkle Pforte entdeckt hatten.
Jetzt würde er von hier oben nicht weggehen, solange es ihm die Dunkelheit erlaubte.
Auf dem Dach kniend, zerrte Varney noch immer an Jules, was schließlich dazu führte, dass Dominique, der ebenfalls nicht losließ, aus dem Rollstuhl stürzte. Daphne zog mit Mühe
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