Totenreise
Super, dass du zuerst zu mir gekommen bist, aber im Ernst. Ich meine, wenn du willst, können wir ein andermal in Ruhe darüber reden.«
Pascal musste sich eingestehen, dass er zu viel von seinem Freund verlangt hatte; Dominiques Verhalten war nachvollziehbar. Wenn die Situation umgekehrt gewesen wäre, hätte er bestimmt genauso reagiert.
»Mach dir keine Sorgen«, antwortete er, »du hast recht. Ich kann nicht erwarten, dass du eine solche Geschichte auf Anhieb glaubst …«
Dominique fand es langsam nicht mehr witzig und er machte sich ernsthaft Sorgen über den Geisteszustand seines Freundes.
»Das Problem ist, auf Jules’ Dachboden zu kommen, ohne auch ihm etwas zu erzählen«, bemerkte Pascal.
Dominique verlor langsam die Geduld. Er wollte die Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben.
»Dann lass uns gleich gehen! Es ist eine gute Zeit und wir schleichen uns ins Haus, wenn jemand die Tür öffnet.«
»Und die Tür zum Dachboden?«, fragte Pascal. »Wie öffnen wir die?«
Dominique lächelte; er würde nicht zulassen, dass sein Freund sich auf einmal drückte.
»Kein Problem. Eine meiner zahlreichen Fähigkeiten ist, Schlösser zu knacken«, sagte er und fügte ironisch hinzu: »Ein wenig vertrauenswürdiger Freund hat es mir gezeigt.«
Pascal war von Letzterem nicht begeistert, doch er nickte und stand auf. Bei aller Ernsthaftigkeit und Dramatik, um die es hier ja ging … er freute sich auf das Gesicht Dominiques, wenn er erst sah, dass alles stimmte, was er erzählt hatte. Der Freund würde noch ganz schön blöd aus der Wäsche gucken!
Dominique bemerkte ein kleines Lächeln auf Pascals Lippen, während sie den Schulhof überquerten.
»Siehst du schon wieder diesen Hund mit den drei Köpfen?«, fragte er ihn, während er seinen Rollstuhl über das Pflaster bewegte. »Was ein solches Tier wohl frisst …«
Pascal wollte schon wütend antworten, als Mathieus Stimme unmittelbar hinter ihnen erklang. Anscheinend hatte er Dominiques letzte Bemerkung gehört: »Hallo, ihr zwei. Was war das eben mit dem Hund mit drei Köpfen?«
Die beiden stoppten und drehten sich zu ihm um.
»Ach, ich habe Dominique nur von einem komischen Traum erzählt«, antwortete Pascal.
Mathieu schien enttäuscht zu sein: »Ach so. Ich dachte, es ging um Mythologie.«
»Mythologie? Wieso das?«, wollte Dominique wissen.
»Das ist eins meiner Lieblingsthemen«, erklärte Mathieu. »Neben Geschichte. Und als ich das von Zerberus gehört habe, da …«
»Zerberus?«, unterbrach ihn Pascal.
Mathieu setzte eine leidende Miene auf: »Habt ihr etwa noch nie von der Fähre des Charon gehört? Unglaublich!« Auch Dominique konnte sich nicht erinnern, schon einmal davon gehört zu haben. Er war nicht besonders interessiert.
»In der griechischen Mythologie«, erklärte Mathieu, »ist Charon eine Gottheit aus der Unterwelt. Seine Aufgabe ist es, die Fähre über den Fluss Styx zu lenken, mit der er die Verstorbenen aus dem Reich der Lebenden ins Reich der Toten bringt.«
Pascal stand der Mund offen und Dominique schüttelte den Kopf. Das hatte gerade noch gefehlt, die fixe Idee seines Freundes stimmte mit einem alten Mythos überein. Jetzt würde es noch schwieriger sein, Pascal die Sache auszureden.
»Erzähl weiter, Mathieu«, bat Pascal.
Der ließ sich das nicht zweimal sagen: »Wenn jemand stirbt, wird seine Seele vom Gott Merkur bis zum Fluss Styx geleitet. Dort muss er auf die Ankunft von Charons Fähre warten, die durch die Wasser der Hölle gleitet. Da man die Überfahrt bezahlen muss, wird dem Toten eine Münze in den Mund gelegt. Die Fähre bringt ihn ans andere Ufer zum Totenreich, dessen Eingang von Zerberus, dem Hund mit den drei Köpfen, bewacht wird; ich dachte, ihr redet über den. Seine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass kein Lebender die Welt der Toten betritt und dass kein Toter aus ihr verschwindet. Eine irre Geschichte, was? Michelle kennt sie bestimmt.«
»Natürlich«, sagte Dominique ernst, »aber es ist trotzdem nur ein Mythos.«
Pascal sah seinen Freund an.
»Merkst du was?«, schien er ihm sagen zu wollen. »Das stimmt überein mit …«
»Du liebe Güte!« Dominique wusste nicht, wie er die Situation wieder unter Kontrolle bringen sollte, ohne dass Mathieu etwas mitbekam. »Gehen wir nun endlich?«
»Ja«, sagte Pascal. »Wir müssen dringend etwas erledigen, Mathieu. Und vielen Dank für die Story, es war eine große Hilfe. Wir unterhalten uns bei Gelegenheit noch mal
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