Totenreise
war, etwas unternommen hätten, hätten sie sie womöglich beschützen können. Doch sie waren ganz auf die Antwort fixiert gewesen, die sie Pascal geben wollte, und hatten ihr Fehlen falsch gedeutet. Und jetzt war es zu spät.
Daphne brach das Schweigen. »Da ist noch etwas.«
Dominique und Pascal horchten auf.
»Ich rede von Raoul und Melanie«, fuhr sie fort und seufzte. »Wenn ich richtig verstanden habe, sind die beiden Jugendlichen, die am Partyabend verschwunden sind, Mitschüler von euch, stimmt’s?«
Die beiden nickten stumm und ahnten bereits, was Daphne ihnen sagen wollte.
»Seid ihr befreundet mit ihnen?«, fragte sie leise.
»Nein«, beeilte sich Dominique zu antworten, »nur Bekannte. Willst du etwa andeuten …«
Wieder seufzte Daphne.
»Sie sind ebenfalls … dem Vampir … zum Opfer gefallen«, sagte sie stockend, »man hat ihre Leichen gefunden, ich selbst habe gesehen, wie die Polizisten sie im Park Monceau geborgen haben.« Sie sah von einem zum anderen. »Die Polizei hat ihren Tod bestimmt mit dem Verbrechen an Henri Delaveau in Verbindung gebracht, das fühle ich, doch haben sie das noch nicht öffentlich gemacht, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.«
Dominique, der noch bis vor Kurzem geglaubt hatte, dass all diese Geschichten reiner Aberglaube seien, konnte es nicht fassen: »Aber warum sie?«, empörte er sich.
»Ich denke, sie hatten das Pech, dem Vampir im falschen Moment zu begegnen. Es war seine erste Nacht in dieser Welt, und er muss einen enormen Appetit gehabt haben. Es gibt keine andere Erklärung dafür. Wenigstens wird der Vampir nun seine Raubzüge etwas reduzieren«, vermutete sie. »Aber wie gesagt, er muss ziemlich geschwächt gewesen sein, als er hier ankam, außerdem, denke ich, brauchte er für seine satanische Zeremonie Menschenblut.«
»Ja, er hat andere Prioritäten«, fügte Pascal resigniert hinzu. »Er will die Pforte finden … bevor ich Michelle …«
War damit die Frage beantwortet, die Dominique und Daphne insgeheim bewegte?
»Du wirst sie also suchen«, stellte die Wahrsagerin vorsichtig fest.
Pascal wäre gern allein gewesen, um nachzudenken. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er sich entscheiden musste: entweder Feigheit, wobei er das Mädchen, das er so mochte, ihrem Schicksal überlassen würde, oder der Mut, sein Leben auf der weitesten und gefährlichsten Reise zu riskieren, die ein Mensch sich nur vorstellen konnte. Eine größere Herausforderung gab es nicht.
Nur er, der Wanderer zwischen den Welten, konnte Michelle vor einem schrecklichen Tod retten.
Was sollte er tun? War er dieser Herausforderung gewachsen? Eine Ewigkeit verging, während er hin und her überlegte. Doch konnte er Michelle ihrem Schicksal überlassen? Das würde er sich nie verzeihen.
Und zum ersten Mal in seinem Leben sagte er ein deutliches Ja. Er würde nach ihr suchen. Selbst wenn es seine erste und letzte große Tat sein sollte.
»Ich werde es tun, Daphne«, verkündete er und fragte sich im gleichen Augenblick, wann seine Selbstsicherheit wieder zu bröckeln anfangen würde.
Doch Dominique, der vom Mut seines Freundes beeindruckt war, sah ihm fest in die Augen. »Ich werde dir helfen, Pascal«, bekräftigte er. »Wann immer du mich brauchst.«
Daphne nickte zufrieden. Niemand wusste, was die kommenden Ereignisse für sie, wie sie hier miteinander saßen, bereithielten, doch sie würden mit allen Mitteln kämpfen. Bis zum Schluss. Jetzt, am Ende ihres Lebens, wusste die Wahrsagerin, dass die jahrzehntelangen Übungen, das immerwährende An-sich-Arbeiten einen Sinn gehabt hatte.
»Also, lasst uns bald loslegen«, sie erhob sich aus ihrem Sessel. »Wir müssen zu Jules, aber nicht mehr heute. Es ist dunkel draußen und der Vampir spaziert dort herum.«
»Du meinst, ich sollte durch die Pforte …?«, fragte Pascal mit fester Stimme und erhob sich ebenfalls.
»So ist es.« Daphne nickte. »Ich kann dir in dieser Welt helfen, aber nicht im Jenseits. Deshalb musst du zurück zu den Toten, ihnen erzählen, was passiert ist, und um Hilfe bitten. Aber wie gesagt, bis morgen müssen wir noch warten.« Sie bemerkte die beunruhigten Gesichter der beiden und verstand ihre Ungeduld. »Glaubt mir, in den nächsten Stunden wird Michelle nichts Ernsthaftes passieren. Ich setze euch zu Hause ab, wo ihr unbedingt bis morgen nach Tagesanbruch bleiben müsst. Wir treffen uns so früh wie möglich, so verlieren wir weniger Zeit.«
»Du willst, dass wir uns morgen
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