Totenruhe
1
Wenn die Blondine nicht ihre Hand auf Jack Corrigans Schenkel gelegt hätte, wäre er vielleicht in seinem eigenen Bett aufgewacht und nicht mitten in der Nacht mit dem Gesicht nach unten am Rand eines Feldwegs. Und dann hätte er das Begräbnis nicht gesehen.
In seinem Zustand hätte er in dieser Nacht auch alles verschlafen können, doch ein kalter Wind fuhr ihm durch die Kleider und weckte ihn. Unter Schmerzen rollte er sich auf den Rücken und blickte benommen in die raschelnden, vom Mond beschienenen Blätter hoher, schlanker Bäume hinauf. Seine Sicht war vom Alkohol in seinen Adern ebenso beeinträchtigt wie von der Tatsache, dass sein linkes Auge fast ganz zugeschwollen war.
Er schloss die Augen und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie er hierher gekommen war. Er erinnerte sich an die Party und die Blondine …
Die Blondine hatte gelächelt und etwas zu ihm gesagt, ehe sie erneut an ihrer Lucky Strike zog.
Corrigan sah ihren dick mit rotem Lippenstift geschminkten Mund Wörter formen, hörte sie aber nicht. Die Rock-’n’-Roll-Band machte zwar gerade Pause, aber irgendjemand hatte das Radio laut gedreht, und Whole Lotta Shakin’ Goin’ On von Jerry Lee Lewis brachte die Fensterscheiben zum Klirren. Die Gespräche in dem überfüllten Zimmer nahmen den Konkurrenzkampf mit der Musik auf, indem der Brüllpegel um eine Stufe hochgeschaltet wurde. Eine alte Verletzung hinderte Corrigan daran, sich unter die Tanzenden zu mischen. Nein,
gestand er sich ein - selbst wenn ihm sein Knöchel keine Schwierigkeiten gemacht hätte, das war nicht seine Musik. Du verknöcherter alter Knacker, schalt er sich selbst, dabei bist du noch nicht mal fünfzig.
Weder die Musik noch die Party war nach seinem Geschmack, was zum Teil für seine schlechte Stimmung heute Abend verantwortlich war. Er wäre gar nicht hingegangen, aber Katy hatte ihm eine Nachricht geschickt und ihn ausdrücklich um sein Kommen gebeten.
Trotz der Nachricht hatte weder Katy noch ihre Mutter Lillian Vanderveer Linworth bei seinem Eintreffen besonders erfreut gewirkt. Das wunderte ihn nicht. Harold Linworth, der Vater des Geburtstagskindes und Lillians Ehemann, ließ ihn seit Jahren seine höflich verbrämte Verachtung spüren.
Katys Schwiegereltern waren ebenfalls da - Thelma und Barrett Ducane. Barrett goss sich bereits kräftig einen auf die Lampe, doch Thelma wirkte ausnahmsweise einmal fast nüchtern. Jack beabsichtigte, möglichst schnell mit Barrett gleichzuziehen.
Thelma erwähnte, dass sie gerade Katy und ihren Sohn Todd dazu überredet hätten, sie zu einer Nachfeier auf ihre Jacht zu begleiten. Ein Mondlicht-Törn auf ihrer neuen Fünfzehn-Meter-Chris-Craft-Catalina.
»Ich habe Thelma die Sea Dreamer zu Weihnachten geschenkt«, erklärte Barrett. »Sie segelt richtig gut, meine kleine Frau.«
Falls Thelma auf diesem idiotischen Segeltörn der Captain sein sollte, erklärte das ihre Nüchternheit. Auf ihre Spielsachen passte sie nämlich auf. Obwohl die Chris-Craft keineswegs das kostspieligste Boot war, das sie sich hätten leisten können, musste Jack daran denken, wie knickrig sie sich ihren Jungen Todd und Warren gegenüber verhielten und wie bereitwillig sie Geld für sich selbst ausgaben. Er fragte, ob Warren auch mit ihnen segeln gehen würde.
Thelma runzelte die Stirn. Die Frage missfiel ihr eindeutig.
»Ich habe Warren gesagt, dass er mitkommen soll«, erwiderte Barrett, »aber er ist mit irgendwelchen Kumpanen unterwegs.«
»Wundert mich, dich hier zu sehen, Jack«, sagte Thelma. »Schreibst du jetzt für die Klatschseite des Express ?«
»Sicher eine schöne Nacht für einen Segeltörn«, sagte er und fügte im Weggehen unhörbar hinzu: »Ideal für Irre wie dich, Thelma.« In einer Januarnacht zu einem Vergnügungstörn aufzubrechen. Die blöde Kuh war wirklich plemplem. Wahrscheinlich wollte sie nur Lillian ärgern, die früher einmal eine gute Freundin von ihr gewesen war, jetzt aber nur noch wenig mit ihr zu tun hatte. Lillian würde es nicht gefallen, dass Katy von den Ducanes von der Party weggelotst würde.
Lillian war von vornherein gegen Katys Ehe mit Todd Ducane gewesen. Sie hatte für ihre Tochter Größeres im Sinn gehabt, und Jack nahm an, dass Katys Heirat mit Thelmas Sohn eine bittere Pille für Lillian gewesen war, nachdem sie sich vor so vielen Jahren mit Thelma zerstritten hatte.
Ausnahmsweise waren Jack und Lillian sich einmal einig. Jack hatte keinen der Ducanes je leiden können, Todd
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