Traeum weiter, Mann
Andererseits stammt er aus dem Dorf und kennt alle und jeden, es ist ein guter Ort, auch geschäftlich: Er kauft seinen Spielkameraden von damals die überschuldeten Höfe ab und verscherbelt sie weiter an reiche Hamburger, die eine Dreiviertelstunde über die Autobahn entfernt wohnen.
Sollte er den Brand als Zeichen nehmen, dass seine Zeit im Dorf vorbei ist? Nein, wie Gerald es auch dreht und wendet, das Haus bleibt sein Traum: die alten Apfelbäume in seinem Garten, der kleine Teich und der wacklige grüne Holztisch, an dem sich im Sommer das ganze Leben abspielt – falls er mal da ist.
Und wenn, ist er meistens alleine.
Die Möglichkeiten als Single auf dem Land, eine Frau kennenzulernen, gehen gegen null – wenn man sich nicht gerade nach Affären mit verheirateten Frauen sehnt, was auf Dauer deprimierend ist.
Womit er sich wieder im Kreis dreht.
»Entschuldigung, kann ich mal kurz den Zucker entführen?«
Gerald schaut auf. Vor ihm steht der Vertreter für sechseckige Putzeimer. Seine Eckzähne stehen etwas vor, wie die von Vampiren.
»Wollen Sie ein Haus kaufen?«, fragt Gerald und lächelt ihn auffordernd an. Seine Provision ist bestimmt mickrig, aber vielleicht hat er ja geerbt, wer weiß. Er dreht ihm den Laptop hin. Der Mann kommt keinen Schritt näher, sondern beugt sich nur mit dem Oberkörper etwas nach vorne, um auf den Bildschirm zu schauen.
»Sechs Zimmer, 3000 Quadratmeter Grundstück, Sauna, Whirlpool, voll unterkellert, alles neu.«
»Kostet ...?«
Gerald dreht den Laptop zurück.
»Zu viel für Sie.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich mir das nicht leisten kann?«
»Die Frage nach dem Preis kam zu früh. Leute mit Geld wollen erst einmal mehr über die Ausstattung wissen.«
Der andere nickt beleidigt und schluckt.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun«, murmelt er und wieselt wieder an seinen Platz am Fenster. Gerald ist sicher, dass er den Typen für immer los ist, und wertet das als Erfolg dieses Tages. In seiner Lage feiert man eben auch Punktsiege. Morgen wird er die Handwerker anweisen, ihm wenigstens einen Raum in seinem Haus bewohnbar herzurichten.
Er muss dringend hier weg.
Aber vorher muss er mehr über die Kellnerin erfahren, die ihn vom Tresen aus immer wieder verstohlen mustert.
3
Das Mädchen von Seite 1
Heiner zieht seine Schuhe aus und legt sich, immer noch komplett angezogen, auf sein Bett. Nachdenklich starrt er an die Decke.
Was für ein Idiot! Was erlaubt sich dieser schief gewachsene Riese, so mit ihm zu reden? In Heiners Wut mischt sich Scham. Wieso hat er sich dessen Frechheiten einfach so gefallen gelassen? Warum hat er den Kerl nicht in seine Schranken gewiesen?
Weil die Attacke so plötzlich gekommen ist. Heiner ist sicher, wenn er nicht so überrascht gewesen wäre, hätte er diesen hohlen Klotz mit Worten scharf wie Rasiermesser innerhalb von Sekunden auf den Boden gedrückt. Aber leider hat er nicht so schlagfertig reagiert. Mit einem unwohlen Gefühl im Bauch wird ihm klar, dass dieser Riesenaffe ihn jetzt aus gutem Grund für einen antriebslosen Schwachkopf halten wird.
Er stöhnt leise. Warum regt er sich so auf? Soll der Kerl doch denken, was er will. Der hat ja keine Ahnung, mit wem er es hier zu tun hat.
Ein Immobilienmakler, denkt er und verzieht spöttisch das Gesicht. Eigentlich auch nur ein besserer Verkäufer, ein Vertreter, mehr nicht. Von solchen kleinen Geistern und ihrer Spießerwelt sollte er sich am besten komplett fernhalten.
Zufrieden über diese Erkenntnis starrt Heiner einfach nur an die Decke und lauscht dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen, das durch das halboffene Fenster in sein Zimmer dringt. In der Ferne hört er Möwen, dazu den Wind, der leise durch die Büsche vor dem Haus streicht. Frau Schmidt hat recht, die Ruhe ist vollkommen.
Er überlegt träge, was er tun soll. Noch ist er gar nicht müde. Er sieht zu seinem immer noch geschlossenen Koffer. Soll er seine Kleider in den Schrank räumen? Nein, dafür ist morgen auch noch Zeit.
Er beschließt, sich ein bisschen für die nächsten Tage vorzubereiten, und holt seine kleine Reisebibliothek aus der Tasche: zunächst das Handwerkszeug eines guten Autoren, der Duden. Feierlich stellt er die Ausgaben für die Rechtschreibung, Fremd- und Stilwörter nebeneinander auf seinen Tisch. Dazu als Inspirationshilfe Der Idiot von Dostojewski , Der Zauberberg von Thomas Mann und Der Butt von Günther Grass . Dazu das Buch, das er sich extra für seinen
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