Trapez
jemals über solche Sachen nachgedacht haben könnte.
»Heb dir etwas auf, was du erreichen willst, Tommy.
Für Matt, glaube ich, wurde er das einzige, was ihm das Schicksal übriggelassen hat. Es ist ein langes Leben, wenn du die Spitze zu früh erreichst und du nirgendwo anders mehr hingehen kannst, als nach unten. Und wenn du dir dann nicht deinen Hals brichst, wird es dir das Herz brechen.« Er hielt inne und lachte das kurze Lachen, wie immer, wenn er ve rlegen war. »So, so«, sagte er, »der alte Mann hält wi eder Reden.« Er tätschelte Tom mys Schulter. »Und was hast du bei den großen Tricks zu suchen, wenn du noch über deine eigenen Füße stolperst ?«
Während sie im ganzen Land arbeiteten und anfingen, sich an das neue Leben mit seinem geordneten Ablauf von Nächten und Tagen zu gewöhnen, hatten sie auch einmal Gelegenheit zu verstehen, was um sie herum vorging. Tommy, der bei Lambeth und im Santelli-Haushalt angefangen hatte, Leute in ein paar, die er sehr gut kannte, und in die gesichtslosen Tausende jenseits der Lichter der Manege einzuteilen, merkte, wie er in diesem größeren Unternehmen geselliger wurde. Er freundete sich mit Zwillingsbrüdern in seinem Alter aus einer französischen Kunstreiterfamilie an u nd schnappte bald genug Franzö sisch auf, um mit ihnen reden zu können. Ein alter Clown brachte ihm zwischen Nachmittags und Abendvorstellung mehr über Make-up bei, als er in drei Jahren bei Lambeth gelernt hatte. Der Clown war mal ein bekannter Bühnenzauberer gewesen, hatte aber das Pech, zwei Finger bei einem Unfall mit Knallkörpern zu verlieren.
Es gab auch aufregende Situationen, Notfälle. Der älteste Bruder einer Familie von englischen Kunstradfahrern steuerte sein Fahrrad zwei Zentimeter zu nah an den Rand des Podestes und fünf aufgetürmte Fahrer fielen wie ein Schauer aus fallenden Körpern hin, rappelten sich jedoch wie durch ein Wunder ohne Verletzungen wieder auf, außer der Jüngsten, die ganz oben gestanden hatte, die kleine Isabella Byrd, die sich zwei Zähne ausgeschlagen hatte und ohne Tränen und sehr verwirrt aus der Manege getragen wurde. Ihre große Schwester Sally, an deren Kopf sie die Zähne ausgeschlagen hatte, bemerkte, dass es zum Glück bloß Milchzähne waren, die irgendwann nachwachsen würden, und sie brachte Isabella ins Bett, die fröhlich darau f wartete, für jeden Zahn einen Shilling zu bekommen – mit acht Jahren verstand Isabella immer noch nicht das amerikanische Geld. Eine der Trapezfliegerinnen aus der anderen Seitenmanege fiel ins Netz und brach sich ihr Handgelenk, und Stella, die diese Saison angefangen hatte, in der Parade zu reiten und bei der Akrobatennummer mitzuarbeiten – für eine Frau war kein Platz in dem Trapezakt, wie ihn die Santellis für Woods-Wayland ausgelegt hatten –, nahm ihren Platz ein. Und Mario hatte es sich irgendwie in den Kopf gesetzt, dass er gerne lernen würde, über das Hochseil zu gehen. Und zum allgemeinen Erstaunen hatte er nach weniger als einem Monat Üben gelernt, es ohne Balancierstange zu überqueren – da die Seiltänzer ohne Sicherheitsnetz auftraten, bescherte dies Papa Tony seinen heftigsten Wutanfall in dieser Spielzeit.
Tommy hatte bloß hin und wieder von seiner Familie gehört; er hatte nicht mehr erwartet. Während der Monate, die er mit den Santellis verbracht hatte, hatte seine Mutter ihm ein Dutzend kurze Notizen geschickt mit hastig hingekritzelten Nachrichten, dass sie ihn liebte, dass er ein guter Junge sei und gesund bleiben solle. Er behielt die Route des Zirkus Lambeth im Auge, mehr aus Neugier als aus Heimweh.
An einem Samstagnachmittag ging er die ›Clown Allee‹ entlang, da er ein paar Minuten Zeit hatte, bevor er sich für den Trapezakt in der zweiten Hälfte der Show fertigmachen mu ss te. Die Clowns hatten die Längsseite der Umkleidezeltwand für sich reserviert, weil sie wegen ihrer enormen Mengen S chminke und ihrer vielen Kostü me doppelt so viel Platz im Umkleidezelt zugewiesen bekommen hatten als die anderen Artisten. Als er sich seinen Weg durch die präzise aufgereihten Koffer zu der Stelle bahnte, wo die Santellis ihren festen Platz im Zelt hatten, kam er an Co e Wayland vorbei, dem Luftmana ger, der mit ihnen in der Akrobatennummer in der ersten Hälfte der Show arbeitete. Wayland zog sich um, um für die zweite Hälfte nach vorn zu gehen, wo er die Kasse übernahm. Als Tommy vorbeiging, knallte er den Deckel seines Koffers zu, aber Tommy konnte gerade
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