Traveler - Roman
spirituellen Erlebnisse nichts weiter als kognitive Reaktionen auf neurologische Vorgänge sind. Wenn man sich bewusst macht, was die Daten implizieren, bedarf es nur noch eines Schrittes zu der Schlussfolgerung, dass Gott ebenfalls ein Produkt unseres neurologischen Systems ist. Das menschliche Bewusstsein hat sich dergestalt entwickelt, dass es sich selbst anbeten kann. Und das ist das eigentliche Wunder.«
Das Gehirn des Toten hatte für einen effektvollen Schlusspunkt der Vorlesung gesorgt, doch nun musste Richardson es nach Hause transportieren. Behutsam stellte er das Plastikgefäß wieder in die Kiste und stieg vom Podium. Ein paar befreundete Kollegen umringten ihn, um ihn zu beglückwünschen,
und später begleitete ihn ein junger Arzt hinaus zum Parkplatz.
»Von wem stammt das Gehirn?«, fragte der junge Mann. »Von jemand Berühmtem?«
»Nein. Der Spender war irgendein armer Schlucker, der kurz vor seinem Tod im Krankenhaus das Einverständnis zur Verwendung seiner Organe gegeben hat.«
Dr. Richardson stellte das Gehirn in den Kofferraum seines Volvos und verließ den Campus in nördlicher Richtung. Nachdem seine Frau sich von ihm hatte scheiden lassen und zusammen mit einem Tanzlehrer nach Florida gezogen war, hatte Richardson sich überlegt, ob er das viktorianische Haus an der Prospect Avenue verkaufen solle. Sein Verstand sagte ihm, dass es zu groß für eine Person war, aber er gab bewusst seinen Gefühlen nach und behielt es. Jedes Zimmer darin glich einem Teil des Gehirns. Es gab eine gut bestückte Bibliothek und im ersten Stock ein Zimmer voller Fotos aus seiner Kindheit. Wenn er seine Gefühlslage verändern wollte, setzte er sich einfach in ein anderes Zimmer.
Richardson stellte den Wagen in seiner Garage ab und beschloss, das Gehirn im Kofferraum zu lassen. Er würde es am nächsten Morgen wieder in die Vitrine in der medizinischen Fakultät stellen.
Er stieg aus und schloss das Garagentor. Es war etwa fünf Uhr nachmittags. Der Himmel hatte eine dunkelviolette Farbe. Richardson roch den Rauch des Holzfeuers, der aus dem Schornstein des Nachbarhauses aufstieg. Es würde eine kalte Nacht werden. Vielleicht hatte er nach dem Essen Lust, ein Feuer im Wohnzimmerkamin anzuzünden. Er könnte sich in den großen grünen Sessel setzen und die erste Fassung der Dissertation eines seiner Studenten durchgehen.
Aus einem grünen Geländewagen, der auf der anderen Straßenseite parkte, stieg ein Mann aus und kam die Auffahrt entlang. Er schien Mitte vierzig zu sein, hatte kurzes Haar und
trug eine Stahlbrille. Seine Bewegungen wirkten energisch und zielgerichtet. Richardson nahm an, der Mann komme von einem Inkassobüro, das von seiner Exfrau beauftragt worden war. Er hatte ihr im vergangenen Monat absichtlich keinen Unterhalt gezahlt, nachdem sie zuvor per Einschreiben mehr Geld von ihm verlangt hatte.
»Tut mir Leid, dass ich Ihre Vorlesung verpasst habe«, sagte der Mann. »Der Kistengott klang interessant. Hatten Sie viele Zuhörer?«
»Entschuldigen Sie«, erwiderte Richardson. »Kennen wir uns?«
»Ich heiße Nathan Boone und arbeite für die Evergreen Foundation. Sie bekommen Fördermittel von uns. Richtig?«
Seit sechs Jahren unterstützte die Evergreen Foundation Richardsons neurologische Forschung. Diese Stiftung hatte eine besondere Art, Fördermittel zu verteilen. Man konnte sich bei ihr nicht bewerben, vielmehr wurde man von ihr kontaktiert. Aber wenn man diese anfängliche Hürde genommen hatte, ging die alljährliche Neubewilligung der Gelder automatisch vonstatten. Niemals rief ein Vertreter der Stiftung an oder kam ins Labor, um das jeweilige Forschungsprojekt zu evaluieren. Richardsons Freunde hatten scherzhaft gemeint, Evergreen sei so etwas wie der Dukatenesel der Wissenschaft.
»Ja. Sie unterstützen meine Forschung seit einiger Zeit«, sagte Richardson. »Was kann ich für Sie tun?«
Nathan Boone holte einen weißen Umschlag aus der Innentasche seines Parkas. »Das hier ist eine Kopie unseres Vertrags mit Ihnen. Ich bin beauftragt, Sie auf den Paragraphen 18, Absatz C, hinzuweisen. Sind Sie mit diesem Teil der Vereinbarung vertraut?«
Natürlich kannte Richardson den Paragraphen. So einen Passus gab es nur bei Vereinbarungen mit Evergreen. Es hieß, er habe den Zweck, Geldverschwendung und Betrug zu verhindern.
Boone nahm den Vertrag aus dem Umschlag und begann vorzulesen: »Paragraph 18 C. Der Empfänger der Fördermittel – das sind ja wohl Sie – erklärt
Weitere Kostenlose Bücher