Treibhaus der Träume
vor Schreck. Schocktod, hieß es nach der Obduktion. Unverletzt stand Lorentzen neben seiner toten Frau und begriff einfach nicht.
Und dann der letzte Akt, der Todesstreich in dem jahrelangen Kampf. »Sie Mörder!« schrie ihn Prof. Heberach an. »Sie haben meine Tochter umgebracht! Sie haben meine Tochter getötet! Sie Mörder!« Was halfen Erklärungen? Der alte Heberach, jähzornig und halb irre vor Schmerz, griff nach einer langen Schere und wollte sich auf Lorentzen stürzen.
Zwei Wochen später stand Lorentzen auf der Straße. Aus der Klinik fristlos entlassen, von den Kollegen, die stets um gutes Wetter bei Heberach besorgt waren, geschnitten, von den Bekannten gemieden. Wenn Prof. Heberach ihn Mörder nannte, mußte etwas Wahres dran sein – so dachten sie alle. Die Macht des Königs war plötzlich sichtbar. In Hamburg wurde Lorentzen zu einem aussätzigen Hund.
Was hielt ihn noch in dieser Stadt? Hier konnte er nicht mehr arbeiten. Kein Krankenhaus stellte ihn ein. Und eine Praxis? Ein Satz des alten Heberach kursiert in Fachkreisen: »Wenn er wieder ein Skalpell in die Hand nimmt, mache ich ihn unmöglich bis auf die Knochen!«
Resignierend gab Lorentzen nach. Man konnte nicht gegen Götter kämpfen. Auch als ihn andere Kliniken anschrieben und ihn als Oberarzt einstellen wollten, eine Großstadt ihm sogar die Chefarztstelle einer chirurgischen Klinik anbot, denn sein Name war bekannt durch seine Veröffentlichungen, sagte er überall ab. Er kannte das Spiel zu genau: Man stellt den Lorentzen ein, um dem Heberach eines auszuwischen. Und auf den Kongressen traf man dann zusammen, und alle Welt wartete darauf: Kriegen sie sich an die Köpfe? Rennen sie sich die Schädel ein? Wie fängt es Heberach an, das Referat des Lorentzen völlig zu verdammen? Gibt es einen Kampf bis aufs Skalpell?
»Nein«, sagte Lorentzen nach langen Überlegungen. »Nein. Ich will nicht mehr. Das alles kotzt mich an.« Er beschloß, für immer das Skalpell aus der Hand zu legen. Er gab einfach auf, zermürbt und mutlos. Er hatte nicht mehr die Nerven, weiterzuboxen.
Und er schrieb Bewerbungen und nahm ein Angebot an. Nach Köln. Als Reisender einer pharmazeutischen Firma. ›Arztberater‹, so nannte man diese Stelle. Ein Reisender in Pillen und Spritzen. Ein Vertreter. Vom Skalpell zum Bestellblock.
So war es heute. Er fuhr nach Köln, in das andere Leben. Es gab keinen genialen Chirurgen mehr, der im Mayo-Krankenhaus in den USA einer der ersten europäischen Gäste war, der mit einem Laserstrahl operierte.
Hatte man nicht ein Recht, sich zu verkriechen, auch wenn es andere als unhöflich ansahen?
Was wußten sie von Dr. Lutz Lorentzen?
Viermal wechselte Lorentzen den Schnapsverband um Mariannes nun dick geschwollenen Knöchel. Für den vierten Verband ging er zum Speisewagen und holte eine Flasche Zwetschgenwasser. Als er zurückkam, fand er einen gedeckten Tisch vor. Trotz Verbotes hatte sich Marianne während seiner Abwesenheit mühsam hochgequält, einen ihrer Koffer heruntergeholt und die mitgenommenen Sachen auf dem Fenstertablett ausgebreitet.
Apfelsinen, Äpfel, Joghurtbecher. Ein paar Scheiben Vollkornbrot.
»Sie sind ein ungehorsames Kind«, sagte Lorentzen und drohte mit dem Finger. »Wollen Sie mit Ihrem Knöchel monatelang laborieren?« Er öffnete den Drehverschluß des Zwetschgenwassers und goß das von Mariannes Körperwärme getrocknete Handtuch voll Alkohol. »Ihr Mittagessen?«
»Ja.«
»Gesund. Sie sind der lebende Beweis.«
»Das war wieder nett von Ihnen«, sagte Marianne leise. Sie hielt den Fuß still, als sich Lorentzen darüber beugte und die neue Schnapskompresse anlegte. Und es war ihr, als streiche seine Hand über ihr Bein, scheu und schnell. Aber es konnte auch ein Irrtum sein.
Dann war Köln erreicht, schneller, als es Marianne lieb war. Von Leverkusen ab – das Bayer-Kreuz hing zwischen den Schornsteinen glänzend hoch in der Luft – machte sich Lorentzen zum Abschied bereit. Er wechselte noch einmal den Verband, holte aus seiner Arzttasche zwei Tablettenröhrchen und legte sie Marianne in den Schoß.
»Falls Sie große Schmerzen bekommen. Zwei Stück. Aber vorher etwas essen. Und in München sofort zum Arzt. Aber Ihr Gatte wird ja sowieso schnell handeln, wenn er die Bescherung sieht.«
»Ich bin nicht verheiratet«, sagte Marianne.
»Verzeihung.« Lorentzen zog seinen Mantel an, nachdem er durch einen Speisewagenkellner sich vom Schlafwagen zwei Kopfkissen hatte bringen lassen
Weitere Kostenlose Bücher