Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Jahr kein Gehalt gezahlt hatte, sie kam nicht mehr so gut wie früher mit Mutter zurecht. Nach ihrer Kündigung arbeitete sie in einem Hotel in Trier. Hermann war, als ich Alma dort traf, bereits auf See, er war einfach abgehauen. Ich wusste nicht viel von dem, was zu Hause geschehen war, wollte es auch nicht wissen, war froh, von dort weg zu sein.
Mein Studium hatte ich abgeschlossen und soeben meine erste Anstellung angetreten. Als ich Alma begegnete, gingen wir auf ihr Zimmer und schliefen miteinander. Es war ein sehr heißer Sommertag, besonders in Trier, wo sich die Hitze über dem Flusstal seit Tagen staute. Wir lagen nackt in ihrem Bett. Alma erzählte mir, dass sie auch wegen Hermann von zu Hause weggegangen sei, nicht nur, weil Mutter ihr Gehalt nicht mehr bezahlen konnte und ihre Nörgeleien unerträglich geworden waren. Sie sagte, Hermann habe nichts mehr von ihr wissen wollen, sie wie den letzten Dreck behandelt und sich nur noch mit Salm und Knuppeglas herumgetrieben, auch mit Vater habe er sich entzweit. Hermann sei ganz anders geworden, er bändele mit Frauen in der Campingschenke an, Frauen, die nur dorthin kamen, um sich für einen Abend zu amüsieren, und Männer für die Urlaubstage suchten, junge Männer, die mit ihnen tanzten, vielleicht auch mehr, wenn es sich ergab. Aber Hermann sei für die auch nur ein exotischer, spinnerter Kerl, jemand, der sich volllaufen lasse, auf seiner Klarinette spiele, beim Tanzen herumhüpfe und verrückte Dinge erzähle. Nachts torkele er über den Campingplatz zum Fluss.
«Er hat mich beschimpft, mir Vorwürfe gemacht – auch deinetwegen.» Sie erzählte, Hermann habe in dieser Zeit alles mitgemacht, was Salm und Knuppeglas anstellten. Die drei stiegen in Wochenendhäuser ein, klauten Eisen-, Blei- und Zinkschrott von Baustellen, brachen Autos auf. Es war einträglicher, als im Zementwerk zu arbeiten oder in der Stadt zu jobben. Knuppeglas, der damals noch mit Schrott handelte, verkaufte das Diebesgut in Belgien. In einer Autowerkstatt im Industriegebiet stahlen sie alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ. «Der Heizungskeller und der Raum unter der Bühne waren voll von geklautem Zeug», sagte Alma.
Eines Nachts erschien Sartorius mit einigen Kollegen in der Gaststätte, sie suchten Hermann, der hielt sich in Vaters Büro versteckt. An der Theke stehend, beteuerte Sartorius, dass Zeugen Hermann gesehen hätten, er vermutlich zu einer gefährlichen Diebesbande gehöre, der man jetzt endlich auf die Schliche gekommen sei. Vater ließ sie aber nicht im Haus herumschnüffeln. Hermann kauerte zitternd in Vaters Büro, hatte Angst, ins Gefängnis zu kommen. Vater steckte Hermann Geld zu, half ihm beim Packen, brachte ihn in derselben Nacht noch mit dem Auto nach Köln, von wo aus er mit dem Zug nach Hamburg fuhr.
Während Alma erzählte, war es Abend geworden, die untergehende Sonne schien durch das Dachfenster der Mansarde, es war so wie damals zu Hause, nur dass wir das Rauschen nicht hörten. Wir fragten uns, was Hermann gerade mache, wo er sich aufhalte. Auf dem Platz vor dem Hotel wimmelte es von Pilgern und Touristen. Man hörte das Bimmeln der kleinen Bahn, die durch die Innenstadt zu den Kirchen fuhr. Der Heilige Rock Jesu war damals, nach acht Jahren, wieder in der Basilika zu sehen. Als Alma aufstand, sang sie auf Französisch, sie hatte tatsächlich in der Zwischenzeit Französisch gelernt. «… Je suis une poupée de cire … poupée de son. Mon cœur est grave dans mes chansons …» Sie hatte sich in einem Hotel in Paris beworben, sie wollte endlich weg aus Deutschland.
20
Ich war gestern am späten Vormittag wieder zu Hermann gegangen, hatte gefragt, was mit ihm los sei, was das alles solle, im Zimmer zu hocken und zu schweigen. Ich war wütend auf meinen Bruder, weil er so tat, als existierten wir für ihn gar nicht mehr. Ich glaubte zu hören, wie er umherging und sich schließlich irgendwo hinsetzte. Auch früher war Hermann manchmal schweigsam gewesen, bei anderen Gelegenheiten aber hatte es nur so aus ihm herausgesprudelt, ich hatte ihm ganze Nächte zugehört, in denen er erzählte und erzählte – so viele Dinge, die ich damals nicht verstand, die es in Wirklichkeit auch nicht gab und die er sich wohl nur ausgedacht hatte.
Ich stand vor Hermanns Tür, versicherte, was auch immer passiert sei, es sei nicht so schlimm, er müsse nur rauskommen, wir würden reden und wie früher an den Fluss gehen. Ich erzählte ihm von meiner
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