Überm Rauschen: Roman (German Edition)
bis sie verhallten.
21
Schließlich waren die Schwestern gestern noch vor dem Mittagessen zu Mutter ins Stift gegangen. Sie wussten nicht, was sie sonst im Haus tun sollten. Sie vermuteten immer noch, dass Hermann draußen herumlaufe, und vielleicht rechneten sie damit, ihm zu begegnen. Ich war froh, mit Alma allein zu sein, und nun endlich offen mit ihr reden zu können. Aber es war viel zu tun, die Fische brutzelten in der Pfanne, sie deckte in der Gaststätte Tische ein, entschuldigte sich bei den Anglern, dass sie so lange warten mussten.
Zehner erzählte an der Theke von einem Mann, der Kiemen hinter den Ohren und Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen hatte: «Je älter der wurde, desto mehr Wasser brauchte der. Zuletzt hat er bloß noch in der Badewanne gelegen, weil er sonst erstickt wär.» Die Angler lachten über die Geschichte, ich stellte mir vor, dass sie stimmen könnte – vielleicht stimmte ja alles, was Zehner erzählte. Alma war in die Küche zurückgeeilt, wendete die Fische, musste achtgeben, dass die Haut nicht an der Pfanne kleben blieb. Dann trug sie das Essen für die Angler auf, sie hatte die Äschen mit Salzkartoffeln, Petersilie und grünem Salat angerichtet. Nachdem die Angler bedient waren, kochte sie das Essen für die Brückenarbeiter, Fleisch und Pommes frites. Als das Fett der Friteuse heiß war, schüttete sie die noch gefrorenen Fritten in den Korb, senkte ihn ins Fett, schloss den Deckel und widmete sich dem Fleisch.
Der Mittagszug aus Köln hielt, wie Reese feststellte, pünktlich am Bahnhof. In der fünften und sechsten Klasse des Gymnasiums – ich hatte noch keinen Nachmittagsunterricht – kam ich meist mit diesem Zug nach Hause, stürmte durch die Gaststätte, warf meine Schultasche in der Küche in eine Ecke und setzte mich hungrig an den Küchentisch. Mutter oder Alma gaben mir vom Essen, das die Gäste übrig gelassen hatten.
Nun kamen die Brückenarbeiter zum Essen. Salm und Knuppeglas betraten die Gaststätte, setzten sich an die Theke. Alma eilte mit Tellern und Schüsseln in die Gaststätte. Die Arbeiter unterhielten sich am Tisch über den Zustand der Brücke, meinten, dass unsere Brücke baufällig sei, aber nicht abgerissen werde, weil die Stromversorgung und die Gasleitungen unter der Brücke hindurch auf die andere Seite der Stadt verliefen. Knuppeglas schimpfte, dass man das alte Ding besser in die Luft sprengen solle, statt Geld für eine Reparatur rauszuwerfen. Wenn er Geld hätte, viel Geld, dann hätte er den Eifeler Hof samt Brücke in die Luft gejagt, den ganzen Ort hätte er weggesprengt.
«Die Brücke», schrie Zehner, «hat uns damals gerettet, beim plötzlichen Tauwetter mit Regen ist der ganze Schnee abgegangen.» Ich kannte diese Geschichte, erinnerte mich, dass sie oft erzählt worden war, früher, wenn ich als Jugendlicher hinter der Theke stand und bedienen musste. Die Leute hatten von Eismassen berichtet, die sich durch das Tal herangewälzt, doch denen die Brücke standgehalten hatte.
In einer Nacht hatte sich das Eis im Fluss gelöst. Mit Getöse trieben im Dunkeln gewaltige Eismassen heran. Die Brücke bebte und wankte, der Fluss staute sich innerhalb weniger Minuten, das Wasser trat weit über die Ufer. Die Menschen schreckten aus dem Schlaf, Wasser drang in die Wohnungen und Ställe, das Vieh stand bis zum Kopf im Wasser, man hatte Mühe, es loszubinden, um es zu retten, Kühe schwammen aus den Ställen hinaus, wurden von großen Eisschollen unter Wasser gedrückt, zahlreiche Hühner, Kälber und Schweine ertranken. Schuhe, Stiefel, Gerät, Vorräte, auch die Felle der Gerberei trieben herum, ein Kalb brachte man noch rechtzeitig auf den Heuboden, eine alte, seit Jahren krank liegende Frau schwamm in ihrem Bett auf dem Fluss. Das Eis wälzte sich durch die Straßen, spülte Misthaufen weg, stürzte Heuwagen um und trieb alles vor sich her, knickte hohe Pappeln um wie Strohhalme. Die Brücke wankte, wäre sie gebrochen, hätte die Flut den unteren Teil des Ortes, unsere Gaststätte und die Zehnermühle einfach weggerissen, kein Stein wäre auf dem anderen geblieben, wenn sie nicht standgehalten hätte.
«Alle Mann standen wir da oben auf der Brücke, versuchten mit Stangen und Spitzhacken die Eisschollen zu brechen», schrie Zehner und fuchtelte dabei mit den Händen in der Luft herum. Die Brücke hatte standgehalten. Am nächsten Morgen waren in einem Sonderzug Pioniere gekommen, hatten das Eis vor der Brücke gesprengt und den
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