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Übersinnlich

Übersinnlich

Titel: Übersinnlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Dirks
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des Todes irgendetwas Bedeutsames zu spüren. Einen Film zu sehen, der vor dem inneren Auge ablief. Ein ganzes Leben, zusammengefasst in einem Kaleidoskop aus Erinnerungen. Aber ich sah nichts außer dem schaummarmorierten Mahlstrom der See. Alles in mir war still und dunkel. Meine Calypso glitt die erste der Schwestern hinauf, schien einen Augenblick lang mit ihrem Bug den Himmel zu berühren – und stürzte in die Tiefe.
    Alles, was nicht fest mit dem Kutter verschraubt war, flog umher. Krachte gegen die Armatur, gegen meine Beine und meinen Rücken, flog hinaus in die Nacht und hinunter in das Wasser.
    Die zweite Schwester rollte heran. Brüllend und zornig. Eine gnadenlose Schönheit mit weißem Kamm, dessen Gischt auf die Calypso herabregnete. Wieder wurde ich in den Himmel hinaufgeschleudert, berührte ihn für die Ewigkeit einer Sekunde, stürzte, und fiel in einen schwarzen Schlund. Ein Donnern, ein Krachen. Strudelnde Finsternis. Noch einmal kämpfte sich der Kutter an die Oberfläche – vergeblich. Das Glas vor mir platzte durch die Gewalt des Wassers, zersprang jedoch nicht. Die Zeit schien stillzustehen. Mein Tod in Form der dritten Schwester ragte über mir auf. Sie packte meine Calypso mit titanischen Fäusten und zermalmte sie. Der Kutter drehte sich, tauchte in das Wasser ein und kippte. Das unausweichliche Ende.

    Meeresblau,
ISBN: 978-3-941547-36-0
    Im Radio sangen Simon & Garfunkel ihr
Bridge over troubled Water
. Seltsam, dass ich die Musik in all dem Lärm noch hören konnte. In meinen letzten Sekunden lachte ich. Was wollte das Schicksal mit seinem Humor beweisen? Wollte es mir vielleicht zeigen, dass jeder ein Narr war, der das Leben und den Tod ernst nahm?
    Das Glas zersplitterte, Wasser schoss herein und traf mich mit der Wucht eines Kanonenschlags. Ich wurde nach hinten geschleudert, raus auf das Deck und über die Reling. Alles ging zu schnell, um nach irgendetwas greifen zu können. Die See nahm mich in sich auf, und das letzte, was ich fühlte, war ein seltsames Gefühl.
    Erleichterung.

    Kopfschmerzen. Höllische.
    Sand auf meiner Wange und unter meinen Händen. Ein Wollpullover, der auf meiner Haut klebte. Was für ein widerwärtiges Gefühl. Blut überall, aus zahllosen kleinen Schnitten. Mir war kalt. Ich erinnerte mich nicht daran, dass mir jemals so kalt gewesen war. Doch, da war eine Erinnerung. Damals als Kind, als der Winter so eisig gewesen war, dass das Meer gefroren war. Zwischen den sich auftürmenden Schollen hatten meine Freunde und ich mehr Abenteuer gefunden als uns lieb gewesen waren. Sie endeten wie viele Jungenspiele: Mit einem versohlten Hintern und der Gewissheit, die eigenen Grenzen ausgelotet und übertreten zu haben.
    „Jack?“
    Eine Stimme. Dunkel und rau wie das Wetter. Es schien Abend zu sein. Was zum Teufel war passiert? Wo war ich?
    „Bist du das, Jack?“
    Ich hörte ein Brummen, das vermutlich aus meiner eigenen Kehle stammte. Schlimmer als die Kälte waren nur noch meine Kopfschmerzen. Als hätte jemand mein Gehirn in einen Häcksler gesteckt. Erinnerungsfetzen strömten auf mich ein. Zu weit rausgefahren, der Sturm, die drei Schwestern. Dann Filmriss. Verdammt!
    Fern bekam ich mit, dass der Mann auf mich einredete. Nur mühsam blinzelte ich den Schleier der Benommenheit von meinen Augen. Es war der alte MacDouglas. Früher ein Fischer, jetzt nur noch sehnsüchtiger Beobachter des Meeres und derart vergnatzt, dass niemand mehr mit ihm klarkam. Mich einmal ausgenommen. Seit Mac nicht mehr hinausfuhr, sah er alles, hörte alles und wusste über alles Bescheid. Zumindest, was das Dorf und seine unmittelbare Umgebung betraf. Auch erkannte ich, dass ich unweit meines Hauses lag. Nein, Haus war zu viel gesagt. Es war eine Bretterhütte, schlicht und ein bisschen schief, die sich sanft in die Dünen schmiegte. Nie hätte ich gedacht, dass ich sie noch einmal wiedersehen würde.
    „Jack, mein Junge“, schnarrte der Alte. „Was treibst du bloß? Komm, ab ins Haus mit dir.“
    Ich wurde hochgezogen und weggeschleift, doch wirklich klar wurde mein Bewusstsein erst, als Mac meinen Körper unter Auferbietung all seiner schwindenden Kräfte auf das Bett bugsierte.
    „Mein Kutter“, stöhnte ich.
    „Was ist passiert?“ Mit seiner grauen Latzhose und den grauen Zottelhaaren samt grauen Augen, wie apathisch mit dem Kopf hin- und herwackelnd, erinnerte mich Mac an einen traumatisierten Zirkuselefanten. „Rede mit mir. Warst du etwa im Sturm draußen? Das muss

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