Übersinnlich
Chronik seiner sterblichen Familie überreichte, von der er glaubte, sie verloren zu haben. Der Lord hatte sie ihm wiedergegeben und seitdem wich er nicht mehr von ihrer Seite. Nein, er würde Melissa nicht im Stich lassen. Aber er würde auch ihren Vater nicht in Gefahr bringen. Also musste er schweigen und wachen und warten. Seine Zeit würde kommen.
Engelstränen,
ISBN: 978-3-940235-19-0
Lucien hatte einen Ahnenforscher beauftragt, als er damals bei ihm Zuflucht suchte. Das Vermächtnis, das er ihm überließ, als es Zeit wurde, getrennte Wege zu gehen, enthielt die Vergangenheit und Gegenwart seiner Blutlinie. Die Erben seines Sohnes Justin mündeten heute in Franklin und Joanna. Ihre Tochter, die zweijährige Melissa, erinnerte ihn mit ihren grünen Katzenaugen und den flammend roten Haaren so sehr an Madeleine – seine verlorene Liebe.
Diese kleine Familie war sein Fleisch und Blut. Seine Hoffnung auf eine zweite Chance. Hoffnung – ein seltenes, kostbares Gut im Leben eines Vampirs. Jetzt war ein Teil von ihr in Flammen aufgegangen und dies hinterließ ein weiteres Mal tiefe Narben in seiner Seele.
In der Dunkelheit des Raumes fiel der Schatten kaum auf, der im Ohrensessel saß. In sich zusammengesunken, als hätte alle Kraft ihn verlassen. Er reagierte nicht, als Franklin näher trat, doch der junge Mann des Ashera-Ordens wusste, dass der Vampir ihn längst bemerkt hatte, noch ehe dieser die Stimme erhob.
„Sie sind tot“, erklärte er und kam damit ohne Umschweife zum Grund seines Besuches und zu der Frage, die in Franklin seit Tagen brannte. Die Leere in Armands Stimme ließ ihm einen Schauder über den Rücken laufen. „Lilly und Joanna sind tot.“
Armand hob den Kopf, sein Gesicht war gezeichnet von Tränen aus Blut, strahlte einen Schmerz und eine Verzweiflung aus, die Franklin taumeln ließen. Nur langsam sickerte die Bedeutung der Worte in seinen Verstand. Legte sich einer kalten Klammer gleich um sein Herz. Seine Nerven waren seit Wochen zum Zerreißen gespannt, weil von den beiden Frauen und dem Kind jede Nachricht fehlte. Dennoch hatte er gehofft. Armands Worte rissen ihm den Boden unter den Füßen weg.
„Nein!“
Er merkte erst, dass er zusammenbrach, als Armand ihn auffing. Die starken Arme gaben ihm Halt, waren ihm zugleich unangenehm, weil er um die Natur des Bluttrinkers wusste. Er hob abwehrend die Hände und Armand ließ ihn los. Seine Beine zitterten, dennoch schaffte er es, den zweiten Sessel zu erreichen und niederzusinken.
„Hat sie … haben sie …“ Er brachte es nicht über sich, die Frage zu stellen.
Armands Schweigen ließ ihn aufblicken. Die Lippen des vermeintlich jungen Mannes bebten. Auch ihn wühlte das sichtlich auf.
„Ich weiß es nicht“, gestand er schließlich.
Franklin atmete tief durch. Er wusste, dass Armand seine Tränen verstanden hätte. Auch er trug die Spuren seiner Trauer. Doch seltsamerweise konnte er nicht weinen. Seine Kehle war eng, seine Augen brannten vor Trockenheit, er fühlte sich so leer wie nie zuvor.
„Und meine … Tochter?“
Das Rascheln von Stoff begleitete Armand, während er sich auf die Kante des Schreibtisches setzte. „Sie hat alles mit ansehen müssen.“
Er keuchte, schloss gequält die Augen. Wie konnte man einer Zweijährigen so etwas antun? Es sei denn …
„Man hat sie fortgebracht. Ich weiß nicht, wohin. Möglicherweise lebt auch sie nicht mehr.“
„Finde es heraus“, bat Franklin mit heiserer Stimme.
„Naturellement. Nichts anderes hatte ich vor. Doch es ist gefährlich, sie sind auf der Hut.“
„Das ist mir egal. Wenn sie noch lebt, dann …“
„Scht!“ Armand ließ ihn nicht ausreden und in dem Blick, der Franklin begegnete, lag ein stummes Flehen. Der Vampir schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Du kannst nicht erwarten, dass ich sie bei denen lasse.“
„Nein“, antwortete Armand. „Wenn sie noch lebt, werde ich einen Weg finden. Aber ich warne dich vor überstürztem Handeln. Du darfst sie nicht unterschätzen.“
Eine lange Pause entstand, weil Franklin wusste, dass Armand recht hatte, es aber nicht zugestehen wollte.
„Margret ist eine mächtige Hexe. Und sie kennt sich in den Tränken aus wie kaum eine andere. Es ist nicht einmal sicher, wie viel von deiner Tochter noch übrig ist. Vielleicht gehört ihr Geist bereits der Hohepriesterin.“
Franklin schwieg. Allein der Gedanke, dass es so sein könnte, zerriss ihn innerlich.
„Du musst es Carl sagen.“
Franklin nickte
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