Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
mutige Traumreisende erreichen konnten.
In
jenem
Venedig hatte sich Ulysses Moore in die perfekte Frau verliebt. Er hatte sie geheiratet und zu sich nach Hause gebracht. Die beiden hatten keine Kinder bekommen, aber weite Reisen unternommen und von den mystischen Orten, die sie besuchten, fantastische Dinge in die Villa Argo mitgebracht. Sie waren unendlich oft durch die Türen zur Zeit gegangen, allein oder gemeinsam mit ihren Freunden. Es waren die Bekannten von Ulysses gewesen, aber bald waren sie auch zu Penelopes Freunden geworden: der verwegene Leonard, der resolute Black, der geniale Peter und viele andere. In der Villa Argo hatten sie jenen Klub der Traumreisenden wiederauferstehen lassen, den Nestors Großvater in London viele Jahre zuvor aufgelöst hatte.
»Fantasie ist nicht jedermanns Sache«, hatte Penelope immer gesagt, wenn sie sich versammelten, um eine neue Reise zu planen. Und tatsächlich waren nicht alle Freunde – so wie sie – unverbesserliche Träumer geblie ben. Manche hatten es vorgezogen, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Sie hatten aufgehört, sich nach den wundersamen Orten und Dingen zu sehnen, die sich jenseits der Türen zur Zeit befanden. So wie Pater Phoenix, der inzwischen Pfarrer von Kilmore Cove war. Oder wie die Biggles-Schwestern, Cleopatra und Klytämnestra, die ihr Leben der Aufgabe gewidmet hatten, für Kinder und Katzen zu sorgen.
Eine Flut schmerzhafter Erinnerungen zog vor dem geistigen Auge des Gärtners vorbei. Er nahm die Schachtel mit den übrigen Schlüsseln und stellte sie neben die vier aufgereihten Schlüssel der Villa Argo. Während er mit dem Finger an ihnen entlangfuhr, rief er sich die Nacht ins Gedächtnis zurück, in der er seine Frau verloren hatte.
Peter war vor Kurzem nach Venedig geflohen. Und Black war aufgebrochen, um irgendwo genau diese Schachtel zu verstecken, die jetzt vor Nestor auf dem Tisch stand.
Leonard und Ulysses hatten sich wieder einmal gestritten. Es ging immer um dasselbe: Leonard bestand darauf, die Türen offen zu halten und weiterzuforschen, während Ulysses die ganze Sache ein für alle Mal abschließen wollte. Und Penelope war es wieder einmal nicht gelun gen, sich Gehör zu verschaffen.
Nestor fasste sich ans Kinn. »Dummkopf! Idiot!«, beschimpfte er sich selbst. »Du hast ihr nie zugehört und deshalb hast du sie verloren.«
Dann fiel ihm der Augenblick ein, in dem er sie zuletzt gesehen hatte. Die Erinnerung daran traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen.
Es war in einer Gewitternacht passiert. Penelope hatte sich einen Mantel übergezogen und war aus der Küche der Villa Argo hinaus in den Garten gegangen. Vom Himmel stürzte eisiger Regen herab. Immer wieder zuckten grelle Blitze.
Nestor war ihr nicht gefolgt. Er hatte sich einen Cognac eingeschenkt und darauf gewartet, dass sie zurückkam. Dann würde er sich dafür entschuldigen, dass er vorhin bei dem Streit zu laut geworden war. Er hatte es nicht hinnehmen können, dass sie Leonard recht gegeben hatte.
Aber Penelope war nicht mehr zurückgekehrt.
Schließlich war Nestor hinausgegangen und hatte nach ihr gerufen, immer und immer wieder. Aber sie hatte nicht geantwortet. Da war nur das unaufhörliche Prasseln des Regens gewesen. Beunruhigt hatte er die anderen angerufen. »Habt ihr Penelope gesehen?« – »War sie bei dir?« – »Hat sie vielleicht bei Ihnen vorbeigeschaut, Mistress Bowen?«
Nein.
Nein.
Und abermals nein.
So war er aufgebrochen, um sie zu suchen, als es dafür schon viel zu spät gewesen war. Der Regen war ihm kalt in den Kragen gelaufen. Wo steckte Penelope nur? Das Motorrad mit dem Beiwagen stand in der Garage. Die Fahrräder waren ebenfalls dort. Das Gartentor war ver schlossen. Die Dachfenster der Villa waren dunkel. Der einzige Ort, der übrig blieb und an dem er noch nachsehen konnte, war …
Die Treppe in den Klippen.
Nestor schloss die Augen. Er wusste noch genau, wie sich das Geräusch angehört hatte, das Penelopes im Wind flatternder Mantel verursachte. Er war an einem Felsvorsprung hängen geblieben.
Die Treppenstufen waren nass und rutschig. Als er sie hinunterlief, wäre Nestor ein paar Mal beinahe abgestürzt. Wieder und wieder rief er nach Penelope, aber alles, was er hörte, waren der trommelnde Regen und das Rauschen des Meeres.
In jener Nacht hatte er Penelope nicht gefunden. Und am darauffolgenden Tag hatte Dr. Bowen die Blutspuren an den Klippen entdeckt.
Der alte Gärtner riss den Kopf
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