Und Freunde werden wir doch
bringen müssen. Ich zeige ihm mein Deutschheft und frage ihn nebenbei, wo er gestern war. Vielleicht ist das sein größtes Geheimnis, und er verrät es mir, wenn ich schwöre, zu schweigen.
Vielleicht lädt er mich zu sich nach Hause ein, weil er gestern nicht da war. Dann können wir alle zusammen um den Tisch sitzen und spielen oder so etwas. Sandra versucht, ihre Gedanken an die Leine zu nehmen. Es hat keinen Zweck, sich jetzt alles mögliche auszudenken. Sie atmet wieder tief durch und kommt auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Schultür steht offen, Bohnerwachsgeruch strömt ihr entgegen. Wie fast jeden Morgen fragt sie sich, warum nur Schulen dauernd gebohnert werden. Sie kann diesen Geruch nicht leiden. Vor Mathearbeiten ist er unerträglich, und auch jetzt verschlimmert er das komische Gefühl in der Magengegend.
Sandra betritt das Klassenzimmer. Obwohl sie ihn nicht anschaut, sieht sie ihn gleich: Ronni ist wieder da. Schnell geht sie zu ihrem Platz, packt geschäftig die Mathesachen aus und kramt in ihrer Schultasche herum. Doch die Flucht ins Hausaufgabenheft mißlingt. Von zwei Seiten wird sie beobachtet.
Hanna mustert befremdet ihre Freundin: »Sag mal, Sandra, was hab ich dir eigentlich getan? Bin ich seit neuestem Luft für dich?«
Hanna hat noch nicht ausgeredet, da schimpft Ronni los: »Wenn du mir noch mal hinterherspionierst, gibt’s Riesenärger, capito?«
Mit aufgerissenen Augen starrt Sandra Ronni an. Sie bewegt den Mund, sagt aber nichts. Da betritt Dr. Rudolf, der Mathematiklehrer, die Klasse. Sandra heftet ihre Augen auf ihn, als könne sie von ihm - ausgerechnet von ihm - Hilfe erwarten.
Dr. Rudolf ist ein recht beliebter Lehrer, auch wenn seinen Fächern - Mathematik und Biologie - von den Schülern nicht das Interesse entgegengebracht wird, das diese Fächer seiner Ansicht nach verdienen. Viele allerdings stören sich an seinem Äußeren.
Dr. Rudolf ist nämlich alles andere als eine gepflegte Erscheinung. Die Haare fallen in einer großen unfreiwilligen Tolle nach hinten oder, wenn er sich in seine Begeisterung für die Geheimnisse der Mathematik hineinsteigert, nach vornme. Und das kommt recht oft vor, denn er scheint zu glauben, daß eigene Begeisterung unbedingt ansteckend sein müsse und mit der nötigen Unterstützung aus jedem Schüler ein kleiner Einstein zu machen sei.
Sandra hat schon oft über Dr. Rudolf lachen müssen, aber davon kann jetzt nicht die Rede sein. Sie zieht ein Taschentuch aus der Hose und hält es an die Stirn. Sie fühlt sich elend.
Nach einer Weile, als die Tafel bereits weiß von mathematischen Gleichungen ist, flüstert Sandra ihrer Freundin zu:
»Bist du sehr sauer?«
Hanna lächelt. Sie ist also nicht böse. Wenigstens etwas, denkt Sandra und seufzt laut. Das war unvorsichtig. Schon hat sie die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich gezogen:
»Sandra, wie kommt dieses Ergebnis -« Dr. Rudolf fährt quietschend mit dem Zeigestock über die Tafel, »- denn zustande?«
Sandra betrachtet die Tafel. Die Aufgaben sagen ihr etwa soviel wie ägyptische Hieroglyphen. Sandra schweigt. Nun dreht sich Ronni um und sieht sie an. Jetzt fällt ihr überhaupt nichts mehr ein.
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie endlich. Aber damit ist sie noch nicht aus der Klemme. Dr. Rudolf setzt allen Ehrgeiz daran, Sandra die Zusammenhänge begreiflich zu machen. Er redet und redet, er wischt einen Teil der Tafel ab, schreibt mit großer Schrift etwas Neues hin, er greift zum Zeigestock und deutet auf die Summenzeichen: »Na?«
Sein guter Wille offenbart erst recht Sandras Unvermögen. Sie sieht ihn hilflos an und senkt dann den Blick auf ihren Schultisch, einen Verweis erwartend. Aber siehe da, Dr. Rudolf läßt es dabei bewenden und nimmt Klaus dran.
Sandra atmet erleichtert auf. Sie weiß, daß Dr. Rudolf nicht bösartig oder gehässig ist, war er noch nie. Wenn er bloß in seinem Eifer mal bedenken würde, daß Schüler außer Mathe auch noch ein paar andere Sorgen im Leben haben.
Sandra sieht auf Ronnis schmalen Rücken und spürt plötzlich Wut in sich aufsteigen, ein bisher nicht gekanntes, heftiges Gefühl der Wut. Statt daß er froh ist, daß sie sich um ihn kümmert, wird er noch frech. Was bildet der sich eigentlich ein? Sandra ertappt sich dabei, daß sie Rachepläne schmiedet.
In der Pause nimmt Hanna ihre Freundin am Arm: »Jetzt erzähl mal, was los ist, Sandretta!«
Sandretta und Hannilein nennen die beiden sich immer, wenn es um Dinge geht,
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