Und Nachts die Angst
Blickfeld.
Reeve bleibt stehen, und ihre Brust zieht sich zusammen. Sie überlegt, ob sie die Straßenseite wieder wechseln und sich dem Haus von der anderen Seite, am Blumenstand vorbei, nähern soll. Aber der Mann schaut gar nicht zu ihr. Wenn er einfach weiterfährt, kann sie ungesehen hinter ihm vorbeihuschen.
Sie kalkuliert, holt Luft und hastet auf den Eingang zu. Sie ist noch sechs Meter entfernt, drei …, zwei …, als der Mann auf Rollen die Räder packt und herumschwingt. Seine Augen glühen. Die Backenbarthaare stehen ab wie Draht.
Reeve springt zurück, schluckt und rennt an ihm vorbei ins Gebäude, wo sie in der kühlen Eingangshalle stehen bleibt, um zu Atem zu kommen. Als sie sich etwas beruhigt hat, wendet sie sich dem Aufzug zu. Er ist alt und so klein, dass man sich schon zu dritt beengt fühlt. Sie weiß, dass sie das schafft. Sie hat ihn schon öfter benutzt. Aber heute nicht. Heute nimmt sie lieber die Treppe.
Der Wartebereich von Dr. Ezra Lerners Praxis duftet immer nach Zitrusfrüchten, und sie ist froh, dass sie früh genug angekommen ist, um das Aroma zu genießen und nach den neun Stockwerken etwas durchzuatmen. Sie nickt der Sekretärin zu, einer netten Frau mit geschwungenen Lippen, und lässt sich auf ihren Lieblingsplatz sinken.
Die Wände sind in einem blassen Jadegrün gehalten, und eine weiße Orchidee blüht in einem kobaltfarbenen Topf, der auf dem Beistelltisch steht. Sie nimmt die neueste Ausgabe des New Yorker und blättert sie durch, sieht sich die Fotos an und liest die Cartoons. Manchmal begreift sie sie alle, aber heute scheint ihr der Witz zu entgehen, und sie wirft sich vor, dass sie die Nachrichten so selten verfolgt.
Um Punkt halb zehn sagt die Sekretärin: »Miss, Dr. Lerner ist jetzt für Sie da.«
Die Privatsphäre der Patienten ist oberstes Praxisgebot, ebenfalls ein Grund, warum Reeve sich hier sicher fühlt. Die Sekretärin spricht sie niemals mit Namen an, auch wenn im Wartebereich sonst keiner ist. Nur ihre Familie, ein paar Leute von der Polizei und Dr. Lerner wissen, dass Regina Victoria LeClaire, das Kind, das mit zwölf Jahren entführt und fast vier Jahre lang gefangen gehalten wurde, offiziell den Namen geändert hat.
Sie ist nicht länger »Edgy Reggie«, das kratzbürstige Mädchen, das auf den Medienrummel reagierte, indem es Kameras umwarf. Sie würde sich jetzt als reaktionsschnell bezeichnen, nicht mehr als ungebärdig. Als ernsthaft, nicht erbittert. Sie hat sich in eine ruhige junge Frau verwandelt, die ein angenehmes, strukturiertes Dasein führt. Sie hat sogar eine Arbeit.
Als Reeve die Zeitung neben die Orchidee legt und sich erhebt, klingelt das Telefon, was eher ungewöhnlich ist, und auf ihrem Weg durch den mit Teppich ausgelegten Flur hört sie, wie der fröhliche Begrüßungstonfall der Sekretärin sich verfinstert. »Oh, nein … Oh, nein … Ja, natürlich, aber der Doktor hat einen Patienten … Ja, ich verstehe.«
Reeve legt die Hand auf den Türknauf und hält inne, um zu lauschen, aber Dr. Lerner zieht die Tür von innen auf. »Reeve«, sagt er. »Wie immer ist es eine Freude, Sie zu sehen.«
Dr. Ezra Lerner sieht eigentlich zu jung aus, um sich auf irgendeinem Fachgebiet hervorgetan zu haben, aber tatsächlich ist er eine führende Instanz auf dem Gebiet der Gefangenschaftssyndrome, weswegen Reeves Vater sich ursprünglich an ihn wandte. Er hat das straffe, kompakte Äußere eines Turners. Glattrasiert, aufmerksamer Blick. Sein kleiner Hund, eine zottelige Mischlingsdame namens Bitsy, steht hinter ihm, wedelt eifrig mit dem Schwanz und schaut mit hündischer Ehrerbietung zu Reeve auf.
Reeve bückt sich, um Bitsy zu streicheln. »Gleichfalls.«
Sie durchquert den Raum, nimmt ihren üblichen Platz auf dem Sofa ein, klopft auf das Polster neben sich, und Bitsy springt hinauf und setzt sich zu ihr.
Dr. Lerner lässt sich auf seinem Sessel nieder, beobachtet sie und fragt, wie sie schläft. Das tut er immer.
»Nichts zu berichten, keine Alpträume, keine Panikattacken. Ich hatte schon so lange keinen schlechten Traum mehr, dass ich mir schon richtig langweilig vorkomme.«
Fast normal, denkt sie, obwohl das ein Begriff ist, den Dr. Lerner niemals verwenden würde. Im Anfangsstadium dauerten ihre Gespräche immer stundenlang. Dann trafen sie sich dreimal die Woche, dann zweimal. Jetzt nur noch dienstags, was das Ausmaß ihres Fortschritts verdeutlicht.
Er stellt ihr ein paar Fragen zu ihrem neuen Job, und mit einem
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