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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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besten Willen nicht interessieren.
    Ich habe auch damals nicht darüber gesprochen, dass ich so etwas wie ein Kuckuckskind bin. Ich hatte es schließlich besser als jedes Vogelbaby! Ich bin nicht ausgesetzt worden. Ich habe niemandem den Platz im fremden Nest streitig gemacht. Ich bin – im Gegensatz zu den Kuckuckskindern im Wald – noch nicht mal ein Nesträuber oder ein Rauswerfer. Ich habe eine richtige Mutter und einen auf seine kühle Weise auch richtigen Vater.

    Inzwischen bin ich mehr als doppelt so alt. Im vergangenen Jahr habe ich das erste Mal ohne ihn Geburtstag gefeiert. Er selbst hatte befürchtet, das Sterben ginge wohl etwas langsamer und vielleicht auch schwieriger. Meine Mutter scheint darüber wahrscheinlich ein- oder zweimal mit ihm geredet zu haben. »Musst dich nicht fürchten«, habe ich sie auf der Intensivstation mehrmals flüstern hören. Er ist nach einem Schlaganfall nicht mehr aufgewacht.
    Jetzt bereitet Mutter schon das zweite Weihnachtsfest ohne ihn vor. Etwas von seiner nüchternen Pragmatik steckt auch in ihr. »Soll doch weitergehen«, sagt sie und wuchtet den Baum von der Balkonseite des Zimmers in die andere Ecke. Die wenigen Tage im Koma soll mein Vater gar nicht mehr gespürt haben. Ob ich mich mit dieser Ärzteweisheit trösten will, weiß ich gar nicht so genau. Die Konsequenz gefällt mir nicht so gut. Denn dann hat er vielleicht auch gar nicht mehr gespürt, dass ich ihm danke gesagt habe. Danke für die vielen gemeinsamen Jahre, die Kämpfe, das Dableiben. Viele seiner Entscheidungen waren bestimmt nicht richtig. Das meiste würde ich heute als Vater anders machen, aber kommt es darauf an? Es zählt, dass er dageblieben ist, biologische Verbindungen nicht an erste Stelle gesetzt, sondern seine Liebe zur Pflicht gemacht hat, ohne das Gefühl, darin zu ersticken.
    |26| Als der Baum aufgestellt fast ein Drittel des Zimmers füllt, überlegen Mutter und ich kurz, ihn von allen Seiten etwas zu befeuchten. Aber das Ritual ist ohne Vaters Anwesenheit lächerlich. Und dann war sie doch noch mal da, die alte, nie ausgesprochene Frage: »Hat er einen Unterschied gespürt zwischen mir und meinem Bruder?«
    »Ja, sehr viele!«, antwortet Mutter. »Aber nicht den, den du meinst.«
    »Woher weißt du das so genau?«
    »Erinnerst du dich noch, die Ablehnung für den Studienplatz? Der ganze Frust? Deine Enttäuschung? So enttäuscht warst du, dass du dich sogar für diese Spitzbuben bei der Armee verpflichten wolltest, nur um danach studieren zu können. Aber Vater hatte Angst, furchtbare Angst, dass sie in drei Armeejahren einen seelisch gebrochenen und willigen Genossen aus dir machen.«
    »Alte Geschichten …«
    »Es war ein erstes und ein letztes Mal, dass er sagte: In diesem Land hat unser Junge keine Zukunft.«
    »…«
    »Es hätte damals nicht viel gefehlt; er wäre mit dir und uns allen geflüchtet. Konnte doch keiner ahnen, dass die DDR untergehen würde. Bei Nacht und Nebel hätte er es versucht, mit Hohn und Spott im Rücken, es wäre ihm egal gewesen. Für dich hätte er es getan. Für seinen ältesten Sohn.«
    Ich bin dann doch noch in die Küche gegangen und habe die Blumenspritze mit Wasser gefüllt. Die Zweige des Baumes haben geglitzert und es war schön, den feuchten Nebel für einen Moment einzuatmen.
    |27| Eine Krüppelbäumchengeschichte
    Ich will dir einen Nachkommen erwecken …
    2. Samuel 7,12

    Sie sieht ihn, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Sie bestaunt das Prachtexemplar, grün, mehr aber bräunlich, von fast allen Seiten. Keine Frage: Es wird ihr Prachtexemplar sein. Genau genommen hat das Exemplar aber so gar nichts von Pracht. Der Stamm hatte wahrscheinlich nie vor, gerade zu wachsen. Die sehr unregelmäßig verteilten, struppigen Äste halten die letzten Nadeln wahrscheinlich nur mit allerletzter Kraft. Ein Bäumchen, wie es eigentlich nicht im Buche steht, sondern eher auf der Baumplantage zurückgelassen wird. Dass dieses Bäumchen noch zum Verkauf dargeboten wird, ist nicht gerade geschäftstüchtig, eher dreist. Doch Katrin stört das nicht. Sie weiß, dieses Krüppelbäumchen gehört zu ihr, in ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, hier im Kiez.
    Der Baumverkäufer weiß nicht, ob er sich über den gelungenen Verkauf dieses verkrüppelten Bäumchens die Hände reiben oder die offenkundig wenig sehtüchtigen Augen dieser Frau Ende 30 bemitleiden soll. »Wahrscheinlich alles eine Frage der Kosten«, denkt sich der Händler. Aber Katrin geht es nicht

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