Und wenn es die Chance deines Lebens ist
ehe er die Wohnung betrat. Er ging ein paar Schritte über das Parkett und legte die Schlüssel auf die Konsole. Und dann sah er es.
Sein kleines Gemälde lehnte schüchtern an der Wand –eine graue ruhige, poetische Schneelandschaft. Frédéric setzte sich auf den Boden, um dem Bild ganz nahe zu sein. Er schaute sich jeden einzelnen Pinselstrich genau an. Am liebsten wäre er mit den Fingern die Ölfarbe nachgefahren, doch seine Hand verharrte mitten in der Bewegung in der Luft wie ein Drachen an diesem Stück des Himmels, das ein Mann während eines Winters vor 150 Jahren betrachtet hatte. Jetzt gehörte dieser Himmel Frédéric ganz allein. Die dunkle Gestalt, die einen schmutzigen, vereisten Feldweg entlangging. Besonders faszinierten ihn die Fußstapfen. Nirgendwo sonst sieht man die Schritte der Menschen besser als im Schnee. Die Spuren dieses Fremden würden von jetzt an seine Wände und seine frühen Morgenstunden mit Leben erfüllen – von der Hand eines Künstlers an einen Zweig der Ewigkeit gehängt. Und er hätte ihn gerne gefragt: »Kennen Sie diesen Maler, der mich so sehr bewegt?«
Ja, Frédéric hätte sicherlich geweint, wenn nicht all diese Menschen auf dem Kaminsims gestanden hätten. Der Rechtsanwalt Frédéric Solis, einer der aufsteigenden Sterne von Dentressengle-Espiard-Smith, der renommiertesten Anwaltskanzlei von Paris. Rechtsanwalt Frédéric Solis, spezialisiert auf Scheidungen in der High Society, Experte für gebrochene Herzen, elegant, unerbittlich und teuer. Sehen Sie ihn sich an, diesen brillanten Rechtsanwalt, der so heftig mit den Tränen kämpft, dass sie den Blick auf das leicht verschwommene impressionistische Gemälde des großen Alfred Sisley kaum trüben. Nur die unscheinbare Dame in dem Holzrahmen hätte es verstanden, aber sie sah ihn nicht, denn sie war ganz allein imSchlafzimmer. Frédéric gab sich der Betrachtung des herrlichen Himmels noch stundenlang so intensiv hin, wie er den inzwischen dunklen Himmel über Paris niemals betrachtet hatte. Und dann hörte er, wie die Farben des Weges seinen Namen riefen.
»Frédéric? Frédéric! Frédériiiic!!«
Frédéric war sieben Jahre alt und lag zusammengerollt in seinem Bett in dem kleinen Zimmer am Ende des Flurs. Er blickte auf die Tapete, die sich an einer Stelle von der Wand löste, während er auf dem goldenen Anhänger mit dem Bild der Jungfrau Maria herumkaute, den er an einer Halskette trug. In Wahrheit schaute er nirgendwohin, sondern er lauschte. Seit drei Tagen hatten sich die Geräusche im Haus verändert. Er wunderte sich auch über die geröteten Augen seiner Mutter, die Anwesenheit der Großeltern und das verlegene Schweigen der Erwachsenen. Frédéric lauschte, ob er nicht die knarrend sich öffnende Tür und dann die ernste und zugleich heitere Stimme seines Vaters hörte. Die melodischen Silben einer langen Geschichte, die alles erklären würde. Die Geräusche, die er vernehmen würde, wenn sein Vater zurückkehrte. Nun wartete er bereits seit drei Tagen auf ihn, und noch immer hörte er diese Geräusche nicht. Dabei war an diesem Tag Weihnachten. Weihnachten 1979.
Wie seine Mutter und auch sein Vater war Frédéric ein Einzelkind. Sein Vater arbeitete bei einer Firma, die Schreibwaren herstellte. Er entwarf Kalender. Er war einsanfter, kultivierter und heiterer Mann. Pünktlich. Oft war er ein wenig geistesabwesend und zog sich in seine eigene Welt zurück, vor allem, wenn Frédéric wieder einmal etwas angestellt hatte. Er überließ es seiner Frau, ihn zu bestrafen, doch er war immer da, wenn man ihn brauchte. Und er liebte Weihnachten sehr. Ganz besonders das Schmücken des Christbaums. In diesem Jahr hatten sie den Christbaum am 5. Dezember gekauft, fünf Tage später als im Jahr zuvor. Im letzten Jahr rieselten an Weihnachten die Tannennadeln nämlich zu Tausenden von dem verdorrten Baum, sobald Frédéric gegen einen Zweig stieß. Sie hatten darüber gelacht und sich vorgenommen, im nächsten Jahr etwas geduldiger zu sein. Während seine Mutter am 5. Dezember die Krippe aufstellte, schmückten Frédéric und sein Vater in jenem Jahr den Christbaum mit roten und grünen Kugeln sowie mit glitzernden Girlanden, die von Jahr zu Jahr immer mehr von ihrer Pracht einbüßten. An diesem Morgen wusste Frédéric, dass der Christbaum im Esszimmer in der Dunkelheit blinkte. Auch der Christbaum wartete auf seinen Papa.
»Frédéric! Kommst du runter, mein Junge?« Seine Großmutter hatte seit jeher eine
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