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Und wir scheitern immer schöner

Titel: Und wir scheitern immer schöner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Gesicht öffentlich, weil ich weiß, dass ich es nicht ändern kann. Ich bin eine öffentliche Wunde. Als Anregung für Diskussionen: «Was für'n Unfall mag die wohl gehabt haben?» Oder einfach nur als Ekelmerkmal: «Mama, das Gesicht von der Frau sieht aus wie Hackfleisch. Mama, gibt's heute Abend Hackfleisch?» – «Nein, du bist zu fett.» – «Mama bitte!» – «Na gut». Scheiß Kinder. Scheiß Eltern.
     
    Ich tu so, als ob ich telefoniere, denn neben mir hat sich 'ne Gruppe Jungmänner niedergelassen, um sich Bier zu ordern. Ich rede spanisch in den Hörer. Rolle ein erregendes ‹R› nach dem anderen in der Gegend herum. Vielleicht fährt ja einer darauf ab und spricht mich an. Ich rede und rede, wechsel vom Spanischen über Griechisch ins Französische. Keiner merkt's. Ich quassel mein Telefon voll. Am anderen Ende der Leitung: niemand.
     
    Irgendwann lege ich mein Dummhandy neben mir auf den Tisch. Ergriffen von melancholischem Schwindel. Dann klingelt das Telefon tatsächlich. Ein sehr fremdes Geräusch. Es ist meine alte Mutter. Mein Vater stirbt. Wahrscheinlich noch heute.
     
    Ich bestelle Sekt.
    Der Weg weg
     
     
    Ich hab mein ganzes Leben nur geatmet.
     
    Da liege ich jetzt. Die Fähigkeit der selbst gewählten Bewegung eher eingeschränkt. Ein Krankenbett. Station A 5, Zimmer 65. Und ich weiß, hier gibt es keinen Weg mehr raus. Meine letzte Reserve Leben wird an diesem Ort ausgehaucht. Ich warte auf das Ende. Manchmal sehr ungeduldig. Es reicht auch.
     
    Mein Leben als Statistik liest sich so langweilig wie ein Buch von Hera Lind. Fünfundneunzig Jahre alt, seit sieben Jahren zieht der Krebs Metastasenstraßen durch meinen Leib, eine Ehe, aus der vier Kinder resultierten, zwei Weltkriege, davon einmal mit Kampfbeteiligung meinerseits, vier Jobs bei zwei Arbeitgebern – die Zeiten, in denen ich arbeitete, waren golden! – und unendlich viele Atemzüge auf dem Weg ins Sterbezimmer. Da liege ich jetzt.
     
    Neben mir zwei schon ‹Sprachunfähige›. Auch sie warten auf ihr Ableben. Der eine starrt an die Decke und manchmal, wenn er glaubt, der nächste Atemzug sei sein letzter, faltet er schleunigst die Hände, damit er auch betend aussehend in die Obhut Gottes kommen kann, der ihn dafür bestimmt auslacht.
     
    Der andere bewegt sich eigentlich gar nicht und man hört auch keine Atemgeräusche. Offenen Auges und verwelkend. Seine Haut krümmt sich nach innen oder will runter vom Körper. Auch in ihm sind Fremdzellen, die ihn fressen. Er kackt sich stündlich voll und wird von der groben Schwester gereinigt. Sie behandelt ihn, als würde sie eine Bank waschen. Würdelos, aber pflichtbewusst. Der nasse Lappen klatscht auf die faltige Haut und zerreibt die Scheiße darauf. Der stuhlinkontinente schließt dabei die Augen und lächelt. Wahrscheinlich stimuliert ihn dieser Mist.
     
    Daneben liege ich. Ständig bemerkend, wie in mir negative Zellen meine Organe auffressen. Schmatzend greifen sie sich Leber, Nieren und Lungenflügel und dinieren den ganzen Kram aus mir raus. Ersetzen das dann durch Schmerz, der vom medizinischen Personal wiederum durch Morphium ersetzt wird. Diese Injektionen sind die Liebe des Mannes auf der Grenze zum Finale. Alles wird dann leicht und manchmal auch bunt. Die lächelnden Schwestern sind so voller Güte.
     
    Ich denke nicht mehr viel an mein Leben. Es war gut, erfüllend. Und reichhaltig. Eine Familie. Eine Arbeit. Meine Frau. Die Kinder. Alles hatte seine Glanzseite und seine Schmierseite. In baldiger Gegenwart des Todes aber verblassen die schlechten Gedanken und das Dasein wird erfüllt von Güte. Inspiriert vom Morphium.
     
    Ein Leben, unterbrochen von den Wirren des Krieges. Die Bestie Stalingrad dreiundvierzig verfolgt meine Sinne zwar bis hierher, aber ich weiß, dass ich dieser Hölle entkommen bin. Der Weg zurück aus schneidender Kälte hat mich viele Freunde und fast einen Fuß gekostet. Aber ich habe es geschafft. Die Erinnerung ist prägnant.
     
    Ich hatte keine Munition mehr. Sie waren zu dritt. Ich wusste, ich musste sie töten. Schoss ihnen Leuchtkugeln in die Körper. Verbrennen und verbluten gleichzeitig, es hatte minus dreißig Grad, und es war ein herzerwärmender Anblick. Ich weinte zwei Tage in verschiedenen Schützengräben. Der Krieg ist ein Hure, niederträchtig und bunt. Der Krieg hat uns alle ‹leer gemenscht›. KaputtgeKRIEGt hat uns das Spektakel. Der Krieg, das Schwein – der Soldat, das Schweinefutter.
     
    Mit dem Wissen,

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