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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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nicht zuhörte – mit ihm sprechen musste, ihn dazu bringen musste zu verstehen. Es war so wichtig, dass er und seinesgleichen verstanden. Die jüngere Generation. Früher oder später mussten sie alle zuhören.
    Und weil er ihr Bruder war.
    Sie pflückte eine seltsame orangefarbene Blume mit zerzausten Blütenblättern. Vier. Sie musste die Namen lernen.
    Jetzt sah sie das Haus. Es war niedriger als die anderen. Ein Clubhaus, Vereinsheim, Sarg.
    Sie sah auf die Uhr. Bald halb drei. Der Todesaugenblick.
    Da brach die Angst über sie herein. Es kam ihr vor, als sollte sie erstickt werden, die Angst zwang ihr die Zunge zurück in den Rachen, und es war ihr unmöglich zu atmen.
    Es war einfach nicht möglich.
    Warum ging sie ihrem Tod entgegen? Es hätte verhindert werden können. Hatte er nicht angerufen und sie gewarnt, gerade damit sie ihn hindern sollte? War es nicht eigentlich eine Bitte, die lautete: Halte mich auf, ich kann mich nicht selbst aufhalten, die Tradition von Jahrhunderten drückt mir das Messer in die Hand, und ich kann mich nicht selbst aufhalten.
    Du musst es für mich tun, Naska, deshalb rufe ich dich an.
    Nein, Nedim, du selbst musst dich aufhalten, du selbst musst die Wahl treffen, du selbst musst die Jahrhunderte umstülpen und das Abgestandene auslüften. Das kann ich nicht für dich tun.
    Ich gehe meinem eigenen Tod entgegen, weil ich mich darauf verlasse, dass du dich auf deine Vernunft besinnst. Dass du Wörter wieder zu Wörtern werden lässt. Weil gerade du gerade jetzt mit der Familientradition brechen sollst. Mein wehrloser Körper stellt diese Forderung an dich. Meine Worte.
    Aber sie hatte ja das Messer. Solange das Schweizer Klappmesser ungeöffnet in ihrer Handtasche lag, waren ihre Argumente verständlich. Sobald sie das Messer öffnete und in die Hand nahm, sagte sie etwas ganz anderes.
    Es war eine Gratwanderung.
    Sie bewegte sich wieder vorwärts. Die Blumen wuchsen immer spärlicher. Hätte sie noch die Zeit, sieben Sorten Blumen zusammenzubekommen? Hätte sie noch die Zeit, sich auf eine schwedische Tradition zu verlassen?
    Sie wusste nicht, ob die kleine rosa Pflanze, die aus dem Steinpflaster zwischen dem Bürgersteig und der Straße wuchs, wirklich als Blume zählte, doch sie riss sie aus und steckte sie in den Strauß. Fünf jetzt. Fünf Blumen unter dem Kissen.
    Aber was für einem Kissen?
    Dem Sargkissen?
    Sie war bei dem niedrigen Vereinslokal angelangt. Keine Blume, so weit das Auge reichte, nicht einmal im Blumenbeet. Als wäre es vorbestimmt, dass sie keine richtige Chance hätte.
    Sie sah die Öffnung, den gewölbten Durchgang zum Hinterhof. Den Treffpunkt. Nicht ein Laut, nicht eine Bewegung, nur das glasklare, blendende Nachtlicht.
    Eine schöne Nacht zum Sterben.
    Sie erreichte die Ecke. Eine Weile blieb sie an die Wand gedrückt stehen. Sie sah auf ihre Füße. Zwischen ihren Sportschuhen wuchs eine kleine weinrote Blume aus dem Asphalt.
    Sie nahm sie und lächelte schwach. Sechs Sorten sind es geworden, dachte sie und bog um die Ecke. Das nennt man »knapp daneben«.
    Er saß auf einer Bank ein paar Schritte im Hinterhof. Sein gebeugter Rücken war ihr zugewandt, sein Gesicht war nach unten gerichtet, auf die Knie. Als drückte das Gewicht der ganzen Welt seine Schultern zu Boden.
    Sie schlich vorwärts. In der Hand hielt sie kein Schweizer Klappmesser, nur sechs Sorten Blumen in einem traurigen Strauß.
    Sie selbst war die Waffe. Ihre Erscheinung. Alles, woran sie damit appellieren konnte. Das war ihre Waffe.
    Sie hatte ihn fast erreicht. Er blieb sitzen, bewegte sich nicht. Die Schwere erschien unerträglich.
    Gleich würde er sich umdrehen. Das Messer würde in seiner Hand aufblitzen: der entscheidende Augenblick.
    »Nedim?«, sagte sie tonlos.
     
    Er antwortete nicht. Saß nur da und schien todmüde zu sein.
    »Nedim?«, wiederholte sie, etwas lauter, und legte die Hand auf seinen Rücken.
    Leicht, leicht.
    Da kippte er nach vorn.
    Die unsichtbare Schwere drückte ihn hinunter auf den Asphalt. Er fiel, haltlos, schwer, plump.
    Seine Augen starrten dunkel in die helle Sommernacht. Unter den Augen war es vollkommen schwarz, als hätte er Monate nicht geschlafen.
    Jetzt würde er ewig schlafen.
    Sie betrachtete ihren Bruder. In der Rechten hielt er ein großes Messer mit einer breiten Klinge. Es blitzte nicht.
    Sein weißes Hemd war ganz rot.
    Und in einem Knopfloch steckte eine blauviolette Blume. Sie sah aus wie eine schön geformte Glocke. Als sie sie

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