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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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übergab den Raum der Stille, die sich auf die mit Brombeeren und Unkraut überwucherten Felder senkte, auf die zusammengesackten Steinmauern, auf die verlassenen Schafställe und die Gräber. Als man ihn aus dem Bauch seiner Mutter zog, blieb Marcel lange Sekunden reglos und still, bevor er kurz einen schwachen Schrei ausstieß, und man musste sich seinen Lippen nähern, um die Wärme einer verschwindend geringen Atmung wahrzunehmen, die auf den Spiegeln keine Kondensspur bildete. Seine Eltern ließen ihn noch in gleicher Stunde taufen. Sie setzten sich nah an seine Wiege und blickten auf ihn voller Nostalgie, als hätten sie ihn schon verloren, und so blickten sie ihn dann auch seine gesamte Kindheit über an. Beim harmlosesten Fieber, bei jeder Übelkeit, bei jedem Hustenanfall wachten sie über ihn wie über einen Sterbenden und nahmen jede Genesung wie ein Wunder auf, von dem nicht erwartet werden durfte, dass es sich wiederhole, denn nichts erschöpft sich schneller als die unwahrscheinliche Barmherzigkeit Gottes. Aber Marcel hörte nicht auf zu genesen und er lebte, und zwar ebenso hartnäckig, wie er zerbrechlich war, als hätte er in der dunklen Trockenheit des Bauches seiner Mutter in einem Grade gelernt, all seine schwachen Kräfte so konzentriert der erschöpfenden Schinderei des Überlebens zu widmen, dass ihn dies schließlich unverwundbar hatte werden lassen. Ein Dämon, vor dessen Sieg es den Eltern graute, schlich unaufhörlich um ihn herum, aber Marcel wusste, dass er nicht obsiegen würde, er hatte ihn noch so sehr entkräftet tief in die Kissen seines Bettes werfen, ihn mit Durchfällen und Kopfschmerzen ausmergeln können, er obsiegte nicht, er hatte sich sogar in ihm niederlassen können, um die Feuer des Geschwürs anzuheizen und ihn Blut spucken zu lassen, mit solcher Gewalt, dass Marcel ein ganzes Jahr lang der Schule fernbleiben musste, er obsiegte nicht, Marcel stand schließlich immer wieder auf, wenn er auch in seinem Magen beständig die Anwesenheit einer auf der Lauer liegenden Hand fühlte, die darauf wartete, ihm die zarten Schleimhäute mit den Enden ihrer schneidend scharfen Finger auszureißen, denn dergestalt musste das Leben sein, das ihm gegeben worden war, stets bedroht und stets triumphierend. Er sparte mit seinen Kräften, seinen Empfindungen, seinen Freuden, sein Herz sprang nicht in die Luft, als Jeanne-Marie schreiend nach ihm suchte, Marcel, komm schnell, da vorn fliegt ein Mann vor dem Brunnen, und seine Augen funkelten nicht, als er den ersten Radfahrer erblickte, den man je durchs Dorf hatte fahren sehen und der den Weg so schnell hinunterraste, dass seine Rockschöße hinter ihm wie die Flügel eines Stelzvogels aufflatterten, und ohne innere Regung sah er seinen Vater sich bei Morgengrauen erheben, um Felder zu bestellen, die nicht sein Eigen waren, und sich um Tiere zu kümmern, die nicht ihm gehörten, während allerorts die Kriegerdenkmäler erstanden, auf denen Frauen aus Bronze, die seiner Mutter ähnelten, mit erhabener und entschiedener Geste das Kind, das sie dem Vaterland zu opfern billigten, den Soldaten zur Seite gaben, die offenen Mundes mit geschwenkter Flagge fielen, als müsste einer verschwundenen Welt, nachdem ihr der Preis für Fleisch und Blut entrichtet worden war, jetzt auch der Tribut an Symbolen gezollt werden, den sie einforderte, um definitiv zu verschwinden und endlich einer neuen Welt ihren Platz zu überlassen. Aber nichts geschah, eine Welt war in der Tat verschwunden, ohne dass eine neue sie ersetzt hätte, die Menschen, verlassen, der Welt beraubt, vollzogen weiterhin die Komödie der Generationen und des Todes, Marcels ältere Schwestern heirateten, eine nach der anderen, man aß altbackene Krapfen unter erbarmungslos sengender Sonne und trank schlechten Wein und zwang sich zu lächeln, als würde schon bald sich etwas ereignen, als müssten die Frauen mit ihren Kindern die neue Welt selbst hervorbringen, aber es passierte nichts, die Zeit fügte nichts anderes hinzu als den monotonen Ablauf der Jahreszeiten, die alle einander ähnelten und nichts anderes verhießen als den Fluch ihrer Dauer, der Himmel, die Berge und das Meer erstarrten im Abgrund des Blicks der Tiere, die ihre mageren Körper im Staub oder Schlamm entlang der Flussufer endlos umherschleppten, und drinnen, in den Häusern, im Schein der Kerzen, warfen sämtliche Spiegel ähnliche Blicke zurück, dieselben hohlen Abgründe, in Gesichtern aus Wachs. Als es Nacht wurde,

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