Utopolis
fort, es schien, als habe er uns vergessen.
Endlich besann er sich und kam uns einen Schritt entgegen. »Ihr müßt wählen: wenn ihr Lakaien bei den Geldleuten werden wollt, könnt ihr euch an einen der Gehröcke hängen, die ihr auf den Dachstraßen spazieren seht, sie brauchen jederzeit Speichellecker und Kam merdiener. Wenn ihr aber von unserm Schlage seid …«
Da unterbrach ihn Hein und sagte mit starker Stim me, als müßte er gegen den Wind anrufen: »Ick war schon im Mutterleib ’n organisierter Prolet, un wat de Korl is, da liegt et ooch in de Familie. Seinen Ollen hat der Bismarck ins Loch gestochen, weil er ’n roten Schlips getragen hat am 1. Mai …«
Der Mann mit dem Namen Joll schüttelte uns herzlich die Hände: »Willkommen, Genossen!«
4
»Ihr müßt vor allem erst utopisch lernen«, hatte uns Joll geraten, als er uns entließ, »damit ihr euch frei bewegen könnt …«
Ich habe mir das Lernen von fremden Sprachen stets als eine ungeheuer schwierige Sache vorgestellt, was wohl daher kam, daß man uns von Jugend auf eingeredet hatte, alles was über den Platz an der Maschine und die Mietkaserne hinausgehe, tauge nicht für ein Arbeiterhirn. In Wahrheit gehört nicht mehr Grips dazu, die Zunge und das Gedächtnis gelehrig zu machen, als den richtigen Ansatz von Hobel oder Feile zu begreifen. Ein tüchtiger Tischler oder Schlosser, der seinen Kram versteht, entwickelt mehr Intelligenz als der durchschnittlich »Gebildete«, der sich für einen Halbgott hält, weil er seine Rede mit fremden Wörtern schmü cken kann und Kostproben von Geschichts- oder Kunstverständnis verteilt, die nach gegorenem Pflaumenmus schmecken.
Damals hatte ich noch einen dunklen Respekt vor dieser Art und traute mir nicht zu, in Kürze im neuen Leben Wurzel zu schlagen.
Es kam aber anders.
Man führte uns in ein Zimmer, das wir für eine nob le Barbierstube hielten, und setzte uns in die verstellbaren Nickelstühle.
»Mir hinten kurz raus!« sagte Hein und deutete auf seinen Haarschopf. Der Mann im weißen Mantel, der hier hantierte, wunderte sich und schüttelte den Kopf. »Nein«, meinte er freundlich auf deutsch, »durch die Ohren und Augen hinein …«
Wir sprangen auf und wollten auskratzen, aber er beruhigte uns. »Ihr seid hier im Institut für Lehrschlaf«, erklärte er, »und lernt in der Hypnose die Grundlagen unsrer Sprache. Wenn ihr jeden Tag ein bis zwei Stunden zu mir kommt und in der Zwischenzeit euch lebhaft mit den Genossen unterhaltet, seid ihr in spätestens einer Woche perfekte Utopier.« Wir widerstrebten nicht länger, zumal die Art dieses Mannes wohlig einschläfernd auf uns wirkte. Halb liegend wurden uns Hörbügel an die Ohren geklemmt. Aus einem Schrank holte der Mann eine flache Scheibe, einer Fonografenplatte ähnlich, und steckte sie in einen Apparat. Über die Wand vor uns begannen Schriftzeichen zu laufen. Bevor wir noch recht was denken konnten, schliefen wir schon.
Wir erwachten wie aus traumlosem, erfrischendem Schlummer. Einige Leute umstanden uns, ihre Rede klang nicht mehr fremd und als sie uns ansprachen und wie gute Freunde begrüßten, antworteten wir, als wäre das ganz natürlich, in ihrer Sprache und konnten ihnen für ihre Mühe danken. Ihr werdet verstehn, wie froh wir waren, nicht mehr stumm wie Stockfische zwischen vergnügten Menschen herumschwimmen zu müssen.
Wir zogen los. Unsren neuen Freunden machte es Spaß, uns in ihre Welt einzuführen. Sie verwunderten sich, daß wir über Dinge staunten, die ihnen längst selbstverständlich waren. Wir wiederum kamen uns wie Buschneger vor, die zum ersten Mal eine Stadt beziehen.
Allein schon die Tatsache, daß sich das ganze Leben oben auf den Dachstraßen abspielte, daß es da Gartenanlagen und Spielplätze gab und Hallen mit versenkbaren Glaswänden, die bei starkem Wind oder Regenwetter nach Beheben geschlossen werden konnten, mutete uns märchenhaft und unwirklich an. Breite bequeme Liegestühle luden überall zum Sitzen ein, ohne daß ein dienstbarer Geist auftauchte und Benutzungsgebühr verlangte. Es war wie in einem schönen gepflegten Kurpark, nur daß Kranke, Gebrechliche und aufgeputz te Nichtstuer fehlten. Denn das wunderbarste an allem waren die Menschen, die sich Proletarier nannten und sich doch so frei und ungebeugt, so leicht, kraftvoll und sicher bewegten, wie es nur dem gegeben ist, der niemals mit der Not auf Leben und Tod ringen mußte. Aufrecht und wohlgebildet wie ihre Körper waren ihre
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