Vaethyr - Die andere Welt
Fulgia hat meine zu dir geführt«, sagte Rosie. »Ich sah sie – uns – zwei Wölfe …« Sie suchte verzweifelt nach Worten; vielleicht würde Faith irgendwann die richtigen finden.
»Kommt«, sagte Virginia. »Kommt mit mir. Da sind Leute, die euch sehen wollen.«
Sam konnte sich nicht erinnern, jemals erlebt zu haben, dass seine Mutter und sein Vater nah beieinanderstanden und sich berührten, geschweige denn mit derart ungezwungener, tiefer Zuneigung. Sie saßen gehüllt in Tau und Nebel am Wasserfall, ohne darauf zu achten, dass sie schon ganz durchweicht waren, denn das Wasser Elysiums war Teil der Genesung. Noch nie in seinem Leben war er so oft umarmt worden, am wenigsten von Lawrence. In ihrer Familie waren Umarmungen immer verpönt gewesen, aber das änderte sich jetzt, als würden Gletscher schmelzen. Jetzt schlangen sich Sams Arme fest um Rosie und ihre um ihn. Ihm war aufgefallen, dass sie noch immer das blutrote Kristallherz trug, sein erstes richtiges Geschenk an sie. Und dass die Narbe an ihrem Hals verschwunden und endlich verheilt war.
»Ich verweilte noch lange Zeit bei den Steinplatten«, erzählte Ginny. »Lawrence sagt, er habe meine Stimme gehört, die ihn vom Abyssus zurückrief. Er schlug seine Augen auf und ich nahm seine Hand und führte ihn hierher. Benommen wie ein Neugeborenes badete er im Wasserfall und sank danach in meine Arme und weinte.« Sie seufzte. »Alle Feindseligkeit zwischen uns war verschwunden wie Frühlingsfrost. Absolut bedeutungslos. Endlich redeten wir miteinander nach all den Jahren voller Missverständnisse.«
Sam meinte grinsend: »Hört sich an, als wär’s Liebe.«
»Viele bekommen keine zweite Chance. Wir können uns glücklich schätzen.«
»Jetzt verstehe ich, warum meine Eltern und Comyn so hartnäckig darauf bestanden haben, dass ich am gestrigen Abend teilnehme«, sagte Rosie. »Nur indem ich Estalyr wurde, gelang es mir, zu Sam vorzudringen. Meine beste Chance, wenn nicht sogar die einzige.Und das wussten sie, konnten es mir aber nicht sagen, weil sie keine falschen Hoffnungen wecken wollten.«
Sam betrachtete seine Eltern, die sich in ihrer Umgebung wohlzufühlen schienen und endlich Frieden miteinander geschlossen hatten. »Ihr bleibt hier, nicht wahr?«, fragte er.
»Ja, das tun wir«, antwortete Lawrence.
Sam akzeptierte die Antwort, aber Rosie verspannte sich in seinen Armen. »Bist du gezwungen, in der Anderswelt zu bleiben, weil du auf Erden gestorben bist, Sam?« Sie sah ihn ängstlich an. »Bist du hier gefangen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er und zog die Stirn kraus. »Wenn es so wäre, würdest du dann bei mir bleiben? Oder mich nur im Winter besuchen, wie Persephone?«
Sie sah ihn an und ihre schönen silbernen Augen waren voller Licht und Tränen. »Ich würde bei dir bleiben. Oder glaubst du vielleicht, ich würde dich jemals wieder aus den Augen lassen …«
Er spürte, dass sich eine Veränderung in ihm vollzog. Nichts Greifbares, aber man lag schließlich nicht zwei Monate auf dem heilenden Lapis und saugte die sattgrünen Energien Elysiums in sich auf, ohne eine Wandlung durchzumachen. Wundersame Einsichten in die Menschen, die seiner Führung bedurften? Noch hatte er kaum begonnen, dieses Gefühl zu ergründen. Vor allem aber fühlte er sich geerdet, mehr er selbst, als er je war.
»Ihr seid hier natürlich willkommen«, sagte Ginny und dabei umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel. »An einem Ort voller Wunder kann man wohl kaum gefangen sein. Aber nein, dir steht die Wahl frei. Das Privileg, semimortal zu sein, bedeutet, dass wir nach Belieben durch die Tore kommen und gehen können. Es heißt, die Spirale sei das Eingangstor zu wieder anderen Spiralen. Sie zu erforschen obliegt uns. Vielleicht ist es auch für euch an der Zeit, von Vaeth weiterzuziehen.«
Sam erwog, was die Anderswelt so trügerisch und so unglaublich verführerisch machte. Das rote Feuer von Naamon und die taubenetzte Schönheit Melusiels. In Wolfsgestalt dahinzujagen, mit der wölfischen Rosie an seiner Seite. Das Wunder des sich nachtblau färbenden Fleisches, durchsichtig und erfüllt von Sternen. Die Verlockungender alten Städte, der Estalyr-Geheimnisse. Die Verlockung Rosies in dieser ursprünglichen Gestalt, die sich eng und heiß an ihn klammerte, deren Lippen und Zunge gierig nach ihm verlangten, deren Augen brannten und deren Haar wie dunkles Blut wogte … Als sich bei der Erinnerung daran eine körperliche Reaktion bemerkbar machte,
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