Vera Lichte 05 - Tod eines Heimkehrers
Geräuschpegel hielt sich hoch. Nicholas hatte diese Aufgabe zur Wahrung des Lärms übernommen, Veras vierjähriger Sohn. Doch wenn er nicht da war, fehlte das Leben.
Vielleicht war das ein Grund, dass Vera an diesem Vormittag nach Veränderung lechzte. Um die Stille zu übertönen.
Vielleicht war es auch, weil sich der Tag jährte, an dem sie Nicholas’ Vater kennengelernt hatte. Jef, der an einem Oktobertag so gewaltsam zu Tode gekommen war.
Vera erinnerte sich oft daran. An das Glück in der kurzen Spanne Zeit, die sie und Jef gehabt hatten, und an die grenzenlose Trauer.
Kein anderer Mann hatte Jefs Platz einnehmen können. Auch Hauke nicht, der ihretwegen von der holsteinischen Küste nach Hamburg gekommen war und den sie liebte. Liebte wie einen guten Freund.
Nein. Auch ihn hatte sie nicht in die Wüste geschickt.
Vera ging durch die vorderen Zimmer und blieb vor dem Schreibtisch ihres Vaters stehen. Silbergerahmte Fotografien.
Eine große von Gustav. Eleganter Endsechziger. Einen Tag nach Veras Geburt aufgenommen. Er hatte den Augenblick festhalten wollen, an dem die Welt noch einmal jung geworden war für ihn.
Die Fotografie von Jef. Schwarzweiß. Halbprofil. Das schmale Gesicht. Die ernsten Augen. Ein zusätzliches Licht, das der Fotograf auf Jefs dunkle Locken gesetzt hatte. Ein Künstlerfoto wie in den Schaukästen der Theater. Teil eines Traumes, der nach den Konzertsälen griff.
Kein Klavierspieler in einer Bar, der Jef doch gewesen war.
Das dritte Foto zeigte Hauke und seinen zwölf jährigen Sohn Theo, die in die Kamera lachten. Zwei gegen den Wind. Hinter ihnen das graue Meer.
Im Herbst waren sie an die Küste zurückgekehrt. Hauke hatte es nicht ausgehalten in der Stadt und an Veras Seite.
Auf dem vierten war Nicholas zu sehen. Jefs und ihr Sohn. Ein heiteres Kind, das nicht die Schwermut seines Vaters geerbt hatte.
Vera trat ans Fenster und guckte in den dunklen Himmel hinein, an dem der Wind die Wolken vor sich hertrieb. Ein spröder Frühling.
Auf dem Balkon nebenan standen Engelenburgs große Oleandertöpfe, noch immer dick verpackt in Luftpolsterfolie.
Die Buchsbäume kamen ihr in den Sinn, die dort mal gestanden hatten.
Warum fiel ihr Philip Perak ein? Perak und seine Buchsbäume.
Sie hatte ihn lange schon aus ihrer Erinnerung verdrängt.
Jan van Engelenburg hatte die Wohnung gleich gefallen, in der er nun seit bald vier Jahren lebte, auch wenn der Verwalter damals angedeutet hatte, dass der vorige Bewohner und Verkäufer der Immobilie eine Tragödie ausgelöst habe und sich in psychiatrischer Behandlung befände. Engelenburg glaubte nicht an böse Geister.
Hätte er noch Zweifel gehabt, dann waren sie vergangen, als sich die blonde Frau über die Brüstung des Balkons im vierten Stock beugte und tat, als betrachte sie die Blumen in den Kästen, um doch nur ihn und den Hausverwalter im Blick zu haben. Vera wärmte sein Herz von der ersten Sekunde an. An gute Geister glaubte er gern.
Dass Vera den Vorbesitzer der Wohnung nebenan aus ihrer Erinnerung verdrängt hatte, war der Präsenz des Holländers zu verdanken. Engelenburg liebte das Leben über alle Maßen. Maßvoll zu sein war ohnehin nicht sein Begehr. Er war der Meinung, dass das Leben den Menschen einiges abverlangte. Wo sich die Gelegenheit ergab, Heiterkeit zu sammeln und Kraft, sammelte er.
Jan van Engelenburg gab gerne ab von der Heiterkeit und der Kraft.
Er hielt einen großen Strauß roter Tulpen in der Hand, als er an diesem Tag an Veras Tür klingelte. Kein Festtag. Nicht mal ein Essen, zu dem er eingeladen war. Leider. Vielleicht ergab es sich noch. Er schätzte Annis Kochkunst sehr und sie seinen Appetit.
Am Vormittag hatte er das Gefühl gehabt, mal nachgucken zu müssen, wie es seinen liebsten Nachbarn ginge. Drüben war es so still gewesen. Engelenburg wusste, dass Nicholas auf einem zweitägigen Ausflug mit der Kindergartengruppe war. Er vergötterte den Bengel. Drei Söhne hatte er großgezogen. Er wäre bereit, einen vierten aufzuziehen.
Jan van Engelenburg hätte lieber noch rote Rosen gebracht. Er gehörte einer Generation an, die glaubte, dass Blumen sprechen können. Er war ein beredter Mann, doch er wäre wortkarg geworden, wenn es darum ginge, Vera seine Liebe zu gestehen.
Erst nach dem zweiten Klingeln wurde ihm geöffnet. Anni stand vor Jan van Engelenburg und hatte einen Stapel karierter Tischdecken in den Händen. Ein gutes Zeichen. Konnte es doch nur bedeuten, dass der große Tisch in
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