Verführung der Schatten
gut versteckt, und du musst eine ganze Reihe von Checkpoints abarbeiten, um zu ihm zu gelangen. Das wird wenigstens eine Woche dauern, eine Woche, die ich nicht habe. Ich bekämpfe nämlich gerade eine Apokalypse. Denk doch nur, Holly“, sie legte ihren Arm über Hollys Schultern und umschrieb mit der anderen Hand vor ihnen beiden einen Bogen, „eine Apokalypse – das Nonplusultra an Chaos und Unordnung.“
Holly erschauerte.
„Möchtest du mich davon abhalten?“, fragte Nïx und ließ sie wieder los.
„Ähm, also, natürlich nicht, aber …“
„Wenn du eisern darauf bestehst, die Gabe, die dir zuteil wurde, zurückzuweisen, dann werde ich dafür sorgen, dass Cade dich sicher zu diesem Hexer geleitet, wo er sich sein Schwert verdient. Ist es das, was du willst?“
„Ich will ja gehen, aber nicht mit ihm allein! Ich nehme nicht an, dass du jemanden anheuern könntest, der etwas weniger …“
„Heiß und sexy ist? Mit Hörnern, die man nicht am liebsten auf der Stelle abschlecken möchte, und ohne diesen verführerischen südafrikanischen Akzent?“ Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Autotür. „Nein, Cade kann für deine Sicherheit sorgen. Er ist stark, und er ist skrupellos.“
Hollys Mund öffnete sich, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam. Hörner, die man am liebsten abschlecken möchte?
„Oh, das hätte ich jetzt fast vergessen.“ Nïx zog eine gewichtige Umhängetasche vom Beifahrersitz. „Hier ist dein Willkommenspaket. Aber jetzt muss ich wirklich los. Ciao!“
Während Nïx den Wagen startete, sagte Holly: „Noch eine letzte Frage.“
„Na gut, Liebes.“
„Kann ich Cadeon trauen?“
Nïx warf ihr mit ausdruckslosen goldfarbenen Augen ein sonniges Lächeln zu: „So weit, wie du ihn werfen kannst.“
11
„Ich nehme an, wir behalten diesen auffälligen Wagen?“, fragte Holly, als Cade auf den Highway in Richtung Norden fuhr.
„Vorerst, ja. Wir müssen so schnell wie möglich aus der Stadt verschwinden. Und rein zufällig ist dieser Wagen so ziemlich das Schnellste, was es gibt.“
„Wohin fahren wir zuerst?“
„Memphis. Nïx sagte, sie hat die Anweisungen in deine Tasche getan.“
Holly griff auf den Rücksitz und schnappte sich die schwere Umhängetasche, die ihre Tante ihr gegeben hatte. Darin fand sie ihren Pass, einen handgeschriebenen Brief, eine Karte mit einem Kreuz gleich über Memphis und zwei umfangreiche Bücher. Das eine hieß Das lebendige Buch des Mythos , das andere Das Buch der Kriegerinnen .
Während sie den Brief herauszog, fragte Holly: „Warum kam mir Nïx manchmal so abwesend vor?“
Cade nippte an seinem Red Bull, ohne in ihre Richtung zu blicken. „Sie ist so sehr damit beschäftigt, die Zukunft vorherzusehen, dass sie sich manchmal aus der Gegenwart ausklinkt. Daran gewöhnt man sich. Außerdem ist sie über dreitausend Jahre alt.“
Das war unglaublich. Nïx schien genauso alt wie Holly zu sein. „Wie alt bist du?“
„Fast ein Jahrtausend.“ Cade wirkte keinen Tag älter als vier- oder fünfunddreißig.
„Dann war das wohl kein Witz, als du meintest, du stammst aus dem Mittelalter. Und warum stammt dein Akzent nicht auch aus dieser Zeit?“
„Die Mythenweltgeschöpfe passen sich der Weiterentwicklung von Sprachen und Dialekten an. Das passiert unbewusst.“
Als Holly das schwarze Wachssiegel des Briefes erbrach, lehnte sich Cade hinüber, um einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen.
Sie drehte den Brief so lange von ihm weg, bis er die Achseln zuckte und wieder nach vorne sah. Dann las sie die schwungvolle Schrift, oder versuchte es zumindest. Ihre Brille schien ihr merkwürdigerweise gar nicht zu helfen, ganz im Gegenteil …
Liebste Nichte,
willkommen in der Familie, endlich!
Dieser Brief wird dir einiges erklären, wofür ich keine Zeit hatte. In deinem Willkommenspaket wirst du zwei Bücher finden. Das eine erzählt die Geschichte deiner Herkunft und enthält ein Verzeichnis der edelsten Kriegerinnen der Walküren. Darunter findet sich auch die Geschichte deiner Mutter.
Dein Vater war ein Mensch und ein Bauingenieur – Gretas große Liebe. Er wurde bei einem Rachefeldzug wegen einer ihrer Überfälle auf die Vampire ermordet, noch bevor Greta von dir wusste.
Rachefeldzug? Überfall auf die Vampire? „Sind Mythenweltbewohner gewalttätiger als Menschen?“, fragte sie Cadeon.
„Und ob“, sagte er, ohne sich zu ihr umzuwenden. „Bei uns gibt es ständig Krieg.“
„Es gibt ständig Krieg“,
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