Vergessene Welt
sich also
dar als das Entstehen, Gedeihen und Aussterben einer Art im Verlauf von wenigen
Millionen Jahren. Im Durchschnitt sei während der gesamten Geschichte des
Lebens auf der Erde eine Art pro Tag ausgestorben.
»Aber warum?«
fragte er. »Was führt zu Aufstieg und Untergang der Arten unserer Erde in einem
Lebenszyklus von vier Millionen Jahren?
Eine Antwort
lautet, daß wir uns nicht bewußtmachen, wie beständig aktiv unser Planet ist. Allein
in den letzten 50 000 Jahren – ein geologischer Wimpernschlag – sind die Regenwälder
zuerst beträchtlich geschrumpft und haben sich dann wieder ausgedehnt. Regenwälder
sind kein zeitloses Merkmal unseres Planeten; genau genommen sind sie sogar
relativ jung. Vor gerade einmal 10 000 Jahren, als die Menschen auf dem
amerikanischen Kontinent noch Jäger waren, erstreckte sich das Packeis bis
hinunter nach New York City. In dieser Zeit starben viele Tiere aus.
Für einen
Großteil der Erdgeschichte ist das Leben und Sterben von Tieren vor einem sehr
aktiven Hintergrund zu betrachten, und das erklärt in vermutlich 90 Prozent der
Fälle ihr Aussterben. Wenn Meere vertrocknen oder salziger werden, stirbt das
Plankton. Komplexe Tiere wie die Dinosaurier sind jedoch eine andere Sache,
weil komplexe Tiere sich gegen solche Veränderungen – im wörtlichen wie im
übertragenen Sinn – isoliert haben. Warum also sterben komplexe Tiere aus? Warum
passen sie sich nicht an?
Physisch
scheinen sie die Fähigkeit zum Überleben zu haben. Es scheint keinen Grund für
ihr Aussterben zu geben. Und trotzdem tun sie es.
Meine Hypothese
lautet, daß komplexe Tiere nicht wegen einer Veränderung ihrer physischen
Anpassung an ihre Umgebung aussterben, sondern wegen ihres Verhaltens. Ich
glaube, daß die jüngsten Erkenntnisse der Chaostheorie oder der nichtlinearen
Dynamik uns faszinierende Anregungen liefern, wie so etwas passiert.
Diese
Erkenntnisse deuten darauf hin, daß das Verhalten komplexer Tiere sich sehr
schnell ändern kann, und nicht immer zum Besseren. Sie deuten darauf hin, daß
Verhalten aufhören kann, auf die Umwelt zu reagieren, daß es zu Untergang und
Tod führen kann. Sie deuten darauf hin, daß Tiere möglicherweise aufhören, sich
anzupassen. Ist es das, was den Dinosauriern passiert ist? Ist das der wahre
Grund für ihr Verschwinden? Das erfahren wir vielleicht nie. Aber es ist kein
Zufall, daß die Menschen sich so für das Aussterben der Saurier interessieren.
Der Untergang der Dinosaurier ermöglichte den Aufstieg der Säugetiere – zu
denen wir gehören. Und das führt uns zu der Frage, ob wir früher oder später
nicht ebenso verschwinden werden wie die Dinosaurier. Ob im Grunde genommen die
Schuld nicht beim blinden Schicksal – einem glühenden Meteor vom Himmel –,
sondern in unserem Verhalten liegt. Im Augenblick haben wir darauf keine Antwort.«
Und dann
lächelte er.
»Aber ich habe
ein paar Anregungen«, sagte er.
PROLOG
»Leben am Rand des Chaos«
Das Santa Fe Institute befand sich in
einer Ansammlung von Gebäuden an der Canyon Road, die früher ein Kloster
gewesen waren, und die Seminare des Instituts wurden in einem Raum abgehalten,
der damals als Kapelle gedient hatte. Vorne am Rednerpult machte Ian Malcolm, erhellt
von einem Sonnenstrahl, der durch ein Oberlicht fiel, eine dramatische Pause,
bevor er seine Vorlesung fortsetzte.
Malcolm war 40
Jahre alt und am Institut wohlbekannt. Er war einer der Pioniere der Chaostheorie
gewesen, aber seine vielversprechende Karriere war durch einen schweren Unfall
während eines Aufenthalts in Costa Rica unterbrochen worden; ja, in einigen Nachrichtensendungen
war er sogar als tot gemeldet worden. »Es tut mir leid, daß ich die Freudenfeiern
in den Mathematikfakultäten überall im Land gestört habe«, sagte er später,
»aber es hat sich gezeigt, daß ich nur ein bißchen tot war. Die Ärzte
haben Wunder vollbracht, wie sie Ihnen sicher gern bestätigen werden. Ich bin
also wieder da – in meiner nächsten Iteration, wenn Sie so wollen.«
Ganz in Schwarz
gekleidet und auf einen Stock gestützt, vermittelte Malcolm einen Eindruck der
Strenge. Er war am Institut ebenso für seine unkonventionellen Hypothesen
bekannt wie für seinen Hang zum Pessimismus. Sein Vortrag in diesem August mit
dem Titel »Leben am Rand des Chaos« war typisch für seine Denkweise. In ihm
stellte Malcolm seine Hypothesen zur Chaostheorie in ihrer Anwendung auf die
Evolution
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