Vergessene Welt
zuzugeben, daß das Aussterben – unüberprüfbar und für Experimente ungeeignet
– möglicherweise gar kein Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung ist. Und
das erklärt vielleicht auch, warum dieses Thema heftigste religiöse und
politische Kontroversen heraufbeschwor. Ich möchte Sie daran erinnern, daß es
etwa um die Avogadro-Konstante, um das Plancksche Wirkungsquantum oder die
Funktionsweise der Bauchspeicheldrüse keine Kontroversen gibt, aber um das
Aussterben wird seit 200 Jahren heftigst gestritten. Und ich frage mich, wie
dieser Streit geschlichtet werden kann – ja? Was ist?«
Jemand in der
hintersten Reihe hatte die Hand gehoben und wedelte ungeduldig damit herum.
Malcolm runzelte die Stirn, er war sichtlich verärgert. Am Institut war es Tradition,
daß Fragen bis zum Ende des Vortrags aufgehoben wurden, es war schlechter Stil,
den Redner zu unterbrechen. »Sie haben eine Frage?« erkundigte sich Malcolm.
Ein junger Mann
Anfang 30 stand auf. »Eigentlich eine Beobachtung«, sagte er.
Der Mann war
dunkelhaarig und schlank, trug Khaki-Hemd und -Shorts, seine Bewegungen wirkten
präzise, sein Auftreten korrekt. Malcolm wußte, wer das war: ein Paläontologe
aus Berkeley namens Levine, der den Sommer am Institut verbrachte. Malcolm
hatte noch nie mit ihm gesprochen, aber er kannte seinen Ruf: Man hielt Levine
allgemein für den besten Paläobiologen seiner Generation, vielleicht sogar den
besten der Welt. Aber die meisten Leute am Institut mochten ihn nicht, sie
fanden ihn aufgeblasen und arrogant.
»Ich stimme
Ihnen zu«, fuhr Levine fort, »daß der Fossilienbefund uns bei der Frage des Aussterbens
nicht weiterbringt. Vor allem, wenn Ihre Hypothese lautet, daß das Verhalten
Ursache des Aussterbens ist, denn Knochen verraten uns nicht viel über das
Verhalten. Aber ich bin nicht Ihrer Ansicht, daß Ihre Verhaltenshypothese
unüberpriifbar ist. Genaugenommen impliziert sie sogar ein Resultat. Sie haben
vielleicht nur noch nicht daran gedacht.«
Es war
totenstill im Saal. Malcolm am Podium machte ein verärgertes Gesicht. Der berühmte
Mathematiker war nicht daran gewöhnt, daß jemand ihm sagte, er habe seine Ideen
nicht zu Ende gedacht.
»Worauf wollen
Sie hinaus?« fragte er.
Levine schien
die angespannte Stimmung im Saal kalt zu lassen. »Nur auf eins«, sagte er. »In
der Kreidezeit waren die Dinosaurier über den ganzen Planeten verbreitet. Wir
haben ihre Überreste auf jedem Kontinent und in jeder Klimazone gefunden –
sogar in der Antarktis. Nun: Wenn ihr Aussterben Folge ihres Verhaltens war und
nicht die Konsequenz einer Katastrophe oder einer Krankheit oder einer
Veränderung der Pflanzenwelt oder eines der anderen großräumigen Phänomene, die
bis dato als Erklärung angeboten wurden, dann scheint es mir höchst unwahrscheinlich,
daß sie alle überall und zur selben Zeit ihr Verhalten änderten. Und das
wiederum bedeutet, daß irgendwo auf der Welt möglicherweise einige dieser Tiere
überlebt haben. Warum nicht nach ihnen suchen?«
»Das könnten
Sie«, erwiderte Malcolm kühl, »wenn es Ihnen Spaß macht. Und wenn Sie nichts
Dringenderes zu tun haben.«
»Nein, nein«,
erwiderte Levine. »Ich meine es ernst. Was, wenn die Dinosaurier gar nicht ausgestorben
sind? Was, wenn sie noch existieren? Irgendwo an einem isolierten Ort auf
diesem Planeten?«
»Sie reden von
einer Vergessenen Welt«, sagte Malcolm, und viele im Saal nickten zustimmend.
Die Wissenschaftler des Instituts hatten für gebräuchliche evolutionäre Szenarios
Kurzbegriffe geprägt. Sie sprachen vom »Feld der Kugeln«, von »Des Spielers
Ruin«, vom »Spiel des Lebens«, der »Vergessenen Welt«, der »Roten Königin« und
vom »Schwarzen Rauschen«. Dabei handelte es sich um klar umrissene Erklärungsmodelle
zur Evolution. Aber sie waren alle –
»Nein«,
erwiderte Levine stur. »Ich rede von einem realen Ort.«
»Dann geben Sie
sich einer Illusion hin«, sagte Malcolm mit einer verächtlichen Handbewegung.
Er wandte sich vom Publikum ab und ging langsam zur Tafel. »Wenn wir uns nun
den Implikationen zuwenden, die das Konzept vom Rand des Chaos hat, sollten wir
mit der Frage beginnen, was die kleinste Einheit des Lebens ist. Die meisten
zeitgenössischen Definitionen des Lebens beziehen sich auf das Vorhandensein
von DNS, aber es gibt zwei Beispiele, die darauf hindeuten, daß diese
Definition zu eng gefaßt ist. Wenn man Viren und sogenannte Prionen betrachtet,
wird deutlich, daß Leben tatsächlich
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