Vergib uns unsere Sünden - Thriller
nicht abgeschlossen.
»Genau wie bei den anderen«, sagte Roth. »Oder wenigstens fast genauso. Riechst du es?«
Miller nickte. »Lavendel.«
»Und der Anhänger?«
Miller trat an die Matratze heran und schaute auf Catherine Sheridan hinunter. Er deutete auf ihren Hals, die dünne Schnur, an der ein brauner Paketanhänger befestigt war. Der Anhänger war unbeschriftet wie bei einer noch namenlosen, vielleicht unbedeutenden, gerade ins Leichenschauhaus eingelieferten Frau. »Die Schnur ist weiß diesmal«, sagte er, als Roth auf der anderen Seite des Betts auftauchte.
Von seinem Platz aus konnte Miller Catherine Sheridans Gesicht genau erkennen. Sie war eine attraktive Frau gewesen, von zartem, beinahe zierlichem Körperbau, mit brünettem schulterlangem Haar und olivfarbenem Teint. Ihr Hals war blutunterlaufen, auch auf Schultern, Oberarmen, Oberkörper, Schenkeln hatte sie solche Quetschungen, manche so brutal, dass die Haut aufgeplatzt war. Nur das Gesicht war nicht entstellt.
»Schau dir mal ihr Gesicht an«, sagte Miller.
Roth kam um das Fußende des Betts herum, stellte sich neben Miller, sagte eine Weile nichts, bevor er langsam den Kopf schüttelte.
»Nummer vier«, sagte Miller.
»Nummer vier«, wiederholte Roth.
Eine Stimme hinter ihnen fragte: »Ihr seid vom Morddezernat?
« Miller und Roth drehten sich gleichzeitig um. Einer der Kriminaltechniker stand ihnen gegenüber, den Spurensicherungskasten in der latexbehandschuhten Hand, hinter ihm ein Mann mit Fotoapparat. »Tut mir leid, aber ihr müsst jetzt raus hier.«
Miller warf einen letzten Blick auf Catherine Sheridans fast friedvolles Gesicht und verließ auf leisen Sohlen den Raum, gefolgt von Roth; keiner von beiden sprach ein Wort, bevor sie im Erdgeschoss waren.
Miller blieb in der Tür zum Vorderzimmer stehen. Über den Bildschirm flimmerte der Nachspann von Ist das Leben nicht schön? .
»Und?«, fragte Roth.
Miller zuckte die Achseln.
»Du meinst …«
»Ich meine nichts«, fiel Miller ihm ins Wort. »Nicht bevor ich weiß, was genau hier passiert ist.«
»Was haben wir?«
Miller zog den Notizblock heraus, überflog die paar Zeilen, die er nach seiner Ankunft hingekritzelt hatte. »Keine Hinweise auf gewaltsames Eindringen in das Haus. Anscheinend ist er zur Vordertür hereingekommen, die Hintertür war verriegelt, als ich an den Tatort kam. Ich habe die Techniker Fotos von dem Riegel machen lassen, bevor wir ihn aufgeschoben haben. Keine Anzeichen eines Kampfes, nichts ist zu Bruch gegangen oder erkennbar verstellt.«
»Wie hoch ist der Prozentsatz an Tätern, die das Opfer gekannt haben? Vierzig, fünfzig Prozent?«
»Wahrscheinlich höher«, antwortete Miller. »Der Pizzajunge hat sie gefunden. King Size Pizza. Eigentlich für zwei Personen. Wenn der Mann, der das getan hat, schon im Haus war, dürfte sie ihn gekannt haben.«
»Genauso gut möglich, dass sie ihn nicht gekannt hat. Vielleicht hatte sie Heißhunger auf Pizza.«
»Es gibt ja noch die Personen von vertrautem Äußeren«, erwiderte Miller und spielte damit auf die vielen Fälle an, in denen sich Leute wie Polizeibeamte, Gasableser, Telefontechniker kleideten, um sich Zutritt zu einem Haus zu verschaffen. Beim Anblick einer vertrauten Uniform vergaßen die Menschen alle Vorsicht. Der Täter kann ungehindert hinein und seine Tat begehen, und kaum ein Zeuge erinnert sich hinterher an mehr als die Uniform. »Kein Einbruch, kein Kampf, kein erkennbarer Widerstand; wir haben es höchstwahrscheinlich mit jemandem zu tun, den sie kannte oder dem sie vertraut hat.«
»Machen wir die Runde durch die Nachbarschaft?«, fragte Roth.
Miller schaute auf die Uhr. Die Müdigkeit war wie eine Wunde auf der Seele. »Sobald die Zeitungen Wind davon kriegen, fliegt die Scheiße aus allen Richtungen.«
Roth lächelte vielsagend. »Als hätte dein Name nicht schon öfter als genug in der Zeitung gestanden.«
Millers Miene verriet Roth, dass seine Bemerkung keine wohlwollende Aufnahme fand.
Sie verließen den Hinterhof von Catherine Sheridans Haus, gingen an der Hecke zum Nachbargrundstück entlang und blieben eine Weile auf dem Gehsteig stehen.
»Würde man nicht denken, oder?«, sagte Miller. »Wenn man nicht wüsste, dass da eine Tote in dem Haus liegt …«
»Der Großteil der Menschen weiß nichts über den Rest der Welt«, sagte Roth.
Miller lächelte. »Was ist das? Jiddische Metaphysik?«
Roth antwortete nicht. Er deutete in Richtung Nachbarhaus zur Rechten. »Lass
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