Vermisst: Thriller (German Edition)
»Gilbert …«
»Halten Sie sich bitte an die aktuellen Umstände«, sagte Jesse eisig.
Mich packte die Wut. »Sie denken, er hat Selbstmord begangen?«
Ich trat auf Gilbert zu, aber Jesse legte mir die Hand auf den Arm und hielt mich zurück.
»Glauben Sie mir, ich will die Situation für Sie nicht schwerer machen, als sie schon ist«, meinte der Deputy etwas freundlicher. »Aber im Augenblick dürfen wir tatsächlich nichts ausschließen. Hätten Sie vielleicht ein Foto von Ihrem Vater? Für die Rettungswacht.«
»Ja.«
Ich fummelte einen Schnappschuss aus meiner Brieftasche. Er war am Pier von Santa Barbara aufgenommen und zeigte uns vor dem saphirblauen Ozean. Mein Vater hatte den Arm um meine Schulter gelegt und sah mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem weißen Haar auffallend gut aus. Seine dunklen Augen funkelten herausfordernd. Ich bin eher ein jungenhafter Typ mit honigfarbenem Haar und sehe ihm bis auf die langen Beine nicht besonders ähnlich. Dafür habe ich von ihm meine Vorliebe für Whiskey aus Tennessee und sentimentale Countrymusik geerbt. Jesse hatte das Bild geschossen. Mein Vater blickte mit einer Gelassenheit in die Kamera, die geradezu provozierend wirkte. Ich lächelte neben ihm, wirkte aber leicht irritiert. Die beiden – Jesse mit seinen schlauen Sprüchen und mein Vater, der ihm immer eine Nasenlänge voraus sein musste – gingen mir mit ihrem Geplänkel bisweilen auf die Nerven. Damals wusste ich gar nicht, wie glücklich ich war. Das Bild stammte aus der Zeit, bevor die Gewalt unser Leben zerstörte. Bevor mein Vater seinen Ruf opferte, um Buße zu tun.
Ich reichte Gilbert das Foto. »Behalten Sie’s, solange Sie es brauchen.«
Das Team der Rettungswacht unten am Hang brüllte der Besatzung des Abschleppwagens zu, die Stahltrosse herunterzulassen. Gilbert entschuldigte sich bei uns und lief hinüber.
Lily runzelte die Stirn. »Tut mir leid.«
»So sind die Regeln«, sagte ich. »Du kannst ja nichts dafür.«
Die Abschlepp-Crew fing an, die Winsch auszufahren.
»Die sind doch hoffentlich vorsichtig, wenn sie das Auto hochziehen. Ich meine nur, falls Dad …«
»Er liegt nicht unter dem Auto«, sagte Jesse.
Ich wusste, dass er recht hatte. Mein Vater war nicht herausgeschleudert und unter dem Wagen eingeklemmt worden. Die lange Furche, die die Fahrertür in den Schlamm gegraben hatte, zeugte vom Gegenteil. Die Tür hatte sich schon lange vor dem Aufprall geöffnet.
Jesse legte mir die Hand auf den Rücken. »Du siehst total durchgefroren aus. Setzen wir uns ins Auto, da ist es warm.«
Wir stiegen in seinen Pick-up. Er ließ den Motor an und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Ich starrte den Abschleppwagen an.
»Er hat sich nicht umgebracht.«
»Ich weiß. Kampflos aufgeben ist nicht sein Ding. Dafür ist er zu stur.«
Mir war klar, dass das als Kompliment gemeint war. Ich streckte die Hand aus, und er rieb sie mit beiden Händen, um mich zu wärmen. Dabei blieb sein Blick an dem Diamantsolitär hängen, den er mir vor einigen Monaten angesteckt hatte.
»Du hast Gilbert nicht erzählt, in welcher Stimmung dein Vater war, als er losfuhr«, sagte er.
»Nein. Das würde er doch nur für seine Zwecke verwenden.«
Er sah aus dem Fenster. »Was ihm wohl zugestoßen ist? Was meinst du?«
Mir fiel die merkwürdige Warnung ein, die mein Vater beim Abschied ausgesprochen hatte.
»Ich weiß es nicht.« Der Wind rüttelte am Auto. Am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen, aber ich riss mich zusammen. »War es schlimm mit Buddy?«
»Das ist jetzt nicht wichtig.«
Aber für ihn war es wichtig. Die Ringe unter seinen Augen sprachen Bände – wie auch die Tatsache, dass er die ganze Nacht in der Abteilung für Wirbelsäulenverletzungen verbracht hatte – mit ausgeschaltetem Handy. Er wirkte müde und besorgt. Als ich seine Hand drückte, schüttelte er den Kopf.
»Der Junge ist kurz davor aufzugeben«, sagte er.
Buddy Stoker war neunzehn und vor drei Monaten mit dem Motorrad verunglückt. Seitdem war er gelähmt und depressiv. Immer wieder sprach er von Selbstmord. Jesse betreute ihn und andere Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen im Rahmen einer Selbsthilfegruppe.
»Ich kann nur Hilfestellung leisten und ihm immer wieder Mut zusprechen. Ob er durchhält, weiß ich nicht.«
Durchhalten konnte die Hölle sein. Niemand wusste das besser als Jesse. Der BMW, der sein Motorrad rammte, hatte den erfolgreichen Sportler im Bruchteil einer Sekunde zu einem
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