Mutter, wann stirbst du endlich?: Wenn die Pflege der kranken Eltern zur Zerreißprobe wird (German Edition)
Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch war keine Therapie für mich. Das Gegenteil ist der Fall. Über das Zusammenleben mit meinen pflegebedürftigen Eltern zu schreiben hat mich viel Kraft gekostet, denn Dinge, die bereits verarbeitet waren, kamen wieder an die Oberfläche, um erneut zu verletzen. Eigentlich hätten meine Erinnerungen gern in der Kiste der Vergangenheitserlebnisse bleiben können.
Dennoch habe ich gemeinsam mit meiner Familie entschieden, meine Geschichte aufzuschreiben. Sie soll Anstoß zum Nachdenken geben. Ich möchte aufzeigen, wie aus der wunderbaren Idee eines Mehrgenerationenhauses ein Albtraum werden kann. Ich möchte all denen, die Ähnliches erleben oder erlebt haben, eine Stimme geben. Ich möchte verdeutlichen, wie es sich anfühlt, wenn man über einen langen Zeitraum unter hoher psychischer Belastung steht. Oft sind es nicht die großen Dinge, die kaputtmachen, sondern die kleinen Ereignisse, die sich ständig wiederholen – jeden Tag, jede Woche, jeden Monat über Jahre hinweg. Und natürlich das Wissen um die Aussichtslosigkeit der Situation derer, die gepflegt werden. Um die Trostlosigkeit ihres Alltags, vor der man sich selbst irgendwann zu fürchten beginnt.
In einer Zeit, in der wir Menschen mit Verpflichtungen, Terminen und Aufgaben durch den Tag getrieben werden, können Kinder nicht mehr das für ihre Eltern leisten, was sie fünfzig Jahre zuvor noch hätten leisten können – ihre Pflege zu übernehmen, ist schier unmöglich. Doch die Politik versucht, indem sie Gesetze schafft, mittels derer wir uns beispielsweise eine berufliche Auszeit für die Pflege nehmen können (oder müssen?), genau das zu erreichen. Natürlich auf eigene Kosten.
Noch viel wichtiger ist mir allerdings, mit diesem Buch zu vermitteln, dass Alt und Jung mehr miteinander sprechen müssen. Immer wieder erlebe ich in meinem Umfeld, dass Kinder sich nicht trauen, mit ihren Eltern über deren Altwerden zu reden. Diese hingegen verschließen sich oftmals dem Thema gegenüber und wollen keine Hilfen oder Ratschläge annehmen. Sie vergessen dabei, dass ihre Kinder ein Teil ihres Altwerdens sind. Es ist unbedingt wichtig, miteinander zu kommunizieren und Klarheit zu schaffen: Wer möchte oder kann die Aufgabe der Pflege übernehmen? Kommt der Umzug in ein Heim infrage? Welche Alternative gibt es? Welcher der Angehörigen ist bereit, die Verantwortung auf sich zu nehmen?
Letztendlich kann niemand, der es nicht selbst erlebt hat, ermessen, wie belastend so eine Pflegesituation für die Angehörigen sein kann. Fehlende Anerkennung, geringe Wertschätzung und die Ahnungslosigkeit der oft viel zu jungen Verantwortlichen in der Politik waren Grund genug, meine Geschichte aufzuschreiben. Sie soll exemplarisch für die vielen anderen tausend traurigen Geschichten im Land stehen.
Kapitel 1
2000–2003
Abschied
Die Lichter im Hafen von Heraklion werden immer kleiner. Ich stehe mit meinem Mann und unserer vierjährigen Tochter an der Reling des Schiffes. Wir starren auf die immer winziger werdende Insel Kreta. Aus dem Lautsprecher hinter uns quäkt eine Stimme: »Welcome on board …« In der warmen Abendluft vermischt sich intensiver Dieselgestank mit dem Geruch von Oregano und Pommes frites aus dem Selfservice nebenan. Stampfende Motorengeräusche im Hintergrund und die blechern klingende Sirtaki-Musik aus dem Lautsprecher machen eine Unterhaltung zwischen Jens und mir unmöglich. So hängen wir zu dritt unseren Gedanken nach.
Wir sind froh, endlich nach Deutschland zurückzukommen. Das Auto ist vollgepackt mit unseren Sachen, der Hund hätte fast nicht mehr hineingepasst. Er musste sich auf die Rückbank quetschen, er sieht ganz unglücklich aus.
»Mama!«, ruft Lena aufgeregt und zeigt auf die anderen Schiffe im Hafen.
Das zweite Schiff folgt uns mit einigem Abstand. Es läuft gerade aus dem Hafen aus und zieht eine riesige Rauchwolke hinter sich her. Lena hüpft vergnügt hin und her und unser Hund mit ihr. Sugar ist eine kretische Mischung aus Dobermann und Schäferhund, mit viel Temperament und viel Bellpotenzial.
»Feuer!«, schreit Lena auf einmal panisch.
Sie missversteht die Rauchsäule und sucht eine Erklärung. Um die Situation etwas zu entspannen, nimmt Jens den Hund an die Leine und geht mit ihm auf das Oberdeck, während ich mich mit Lena in das Innere des Schiffes begebe, wo es etwas ruhiger ist.
»Nein«, tröste ich sie, »das ist nur der Dieselmotor des Schiffes, der eine Menge Rauch
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