Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
er nicht raus? Das wäre doch am einfachsten gewesen. Warum hat er sich versteckt?«
»Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht war er ein bekannter Nazi. Vielleicht war sein einziger Makel, Grundbesitzer zu sein. Vielleicht hat er nicht geglaubt, dass dies das Ende war. Eine Menge Leute haben das nicht geglaubt. Sie dachten, nach ein paar Monaten würden die Russen weiterziehen, die Polen nach Hause gehen, und der ganze Spuk hätte ein Ende.«
»Spuk?«
»Aus der Sicht derjenigen, die hier gelebt haben, ja. Nachdem die Russen weiter in Richtung Berlin marschiert sind, sind viele, die geflohen waren, wieder umgekehrt. Sie dachten, sie könnten zurück in ihre Häuser und auf ihre Felder. Doch das ging nicht mehr.«
»Weil wir uns alles unter den Nagel gerissen haben? Meinst du das?«
»Nein.« Wie dünn war das Eis, wie nah die Geschichte. »Nein. Das meine ich nicht. Aber ich glaube, du würdest genauso handeln. Du würdest auch nicht glauben wollen, dass du alles verlierst.«
»Ich bin kein Nazi. Sie wussten, was passieren würde.«
»Waren damals alle Nazis?«
Ich hörte sein verächtliches Schnauben.
»Wer auch immer sich hier versteckt hat, er kannte sich aus. Er muss deinen Großeltern noch über den Weg gelaufen sein. Siebzig Jahre später schneit plötzlich sein Enkel hier herein. Und Marek, halb blind, halb wahnsinnig vor Angst, glaubt, ihn leibhaftig und wiederauferstanden vor sich zu sehen.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Jacek leise. »Mein Vater will noch etwas. Er will, dass all die Verfluchten von damals und heute totgeschlagen werden.«
Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff.
»Marek war ein Kind«, sagte ich hilflos. »Die Hagens sind kräftige Leute. Er wird doch nicht auf dieses arme Schwein losgegangen sein, das sich hier versteckt gehalten hat?«
Jacek stand auf und kam zu mir an die Tür. »Nein. Das ist absurd. Völliger Quatsch. Warum sollte er das tun?«
Ja, dachte ich, während Jacek die Lampe wieder aufnahm und zum Ausgang voranging. Warum sollte ein kleiner Junge im Jahr 1945 so etwas tun?
31
»Zuza?«
Ihre Mutter stand am Fuß der Treppe zum Dachgeschoss, in der Hand Zuzannas klingelndes Handy. Zuzanna schreckte hoch. Um ein Haar wäre sie selbst eingeschlafen.
»Telefon!«
Zärtlich befreite sie sich aus Alis Umarmung. Das Mädchen schlief noch nicht ganz. Seine Augenlider zitterten, als Zuzanna vorsichtig ihren Arm zurückzog, in den sie das Kind gebettet hatte.
»Wer ist denn dran?«, rief sie leise und verließ das Kinderzimmer, in dem sie früher gewohnt hatte. Jetzt war es Alis Reich, aber die Möbel und ein Teil der Spielsachen und Stofftiere waren geblieben. Es machte sie glücklich, dass so vieles aus ihrer eigenen Kindheit überdauert hatte.
Weronika warf einen Blick auf das Display. »Bałwan« , las sie stirnrunzelnd ab. Schneemann. Das hieß so viel wie Vollidiot.
Zuzanna warf einen schnellen Blick über die Schulter nach Ali. Wenn das Handy noch länger klingelte, würde das Kind aufwachen. Sie lief die Treppe hinunter und riss ihrer Mutter den Apparat aus der Hand.
»Halo?«
»Vernau noch mal. Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin wieder auf dem Weg nach Berlin. Ich hätte noch eine Bitte an Sie.«
Sie lief in Strümpfen vor die Tür und tastete ihre Jeans nach den Zigaretten ab. Weronika beobachtete es und ging kopfschüttelnd ins Wohnzimmer.
»Hören Sie, ich habe Ihnen doch gesagt, ich kümmere mich morgen um alles.«
Noch immer, vor allem in Momenten wie diesen, beschlich sie das Gefühl, dass er sie nicht ganz für voll nahm.
Ich bin nicht dein Laufbursche. Wenn du kein Privatleben hast, ich habe eins. Keins, mit dem ich vor dir angeben würde. Aber es ist mir wichtig. Sehr wichtig.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören. Ich dachte nur, es würde Sie interessieren. Falls Sie morgen nach Cigacice fahren.«
»Ich fahre morgen nach Cigacice.«
Sie hatte vorgehabt, Ali und ihre Eltern mitzunehmen, wenn das Wetter es zuließ. Der kleine Ort lag nicht weit von Janekpolana, romantisch eingebettet zwischen Odra und sanften grünen Hügeln. Sie konnten Fisch direkt aus dem Rauchfang essen und eines der breiten handgeschreinerten Holzboote mieten, mit denen man den Fluss hinauffahren konnte bis nach Górzykowie zum Stara Winna Góra , dem alten Weinberg. Der größte von den vielen, die mittlerweile wieder bewirtschaftet wurden, mit Restaurant, Kellerbesichtigung und Weinprobe. Zwischendurch wäre sie für eine Stunde
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