Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Menschen mehr. Sie störten. Hier wurde gearbeitet. Es gab einen Augenarzt, ein Architekturbüro, zwei IT-Firmen, diverse PR-Agenturen, eine Werbefilmproduktionsfirma, mehrere Gesellschaften mit klangvollen Namen, unter denen ich mir gar nichts vorstellen konnte, und den chinesischen Reiki-Meister.
Niemand hier würde sich an eine rothaarige, chaotische Anwältin erinnern, die in ihrer Kanzlei übernachtet und sich im Kampf gegen Hausbesitzer, Mietwucher und brutale Räumungen aufgerieben hatte. Niemand. Sogar ich hatte sie vergessen. Wenn ich ehrlich war, hatte ich die letzten beiden Jahre ohne sie als die friedlichsten und ruhigsten meines Lebens empfunden.
»Ist lange her, was?«
Erschrocken fuhr ich herum. Im Schatten der Hofeinfahrt stand ein junger Mann. Sein blonder, gepflegter Vollbart machte eine Identifizierung unmöglich. Dennoch kam mir seine Stimme bekannt vor, und die Augen hinter der eckigen Hornbrille verrieten ihn.
»Kevin?«
Er trug eine dieser unvermeidlichen Wollmützen zu einem schmal geschnittenen Anzug. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er langsam auf mich zu. Um den Hals hatte er, der unfreundlichen Witterung entsprechend, einen dünnen Kaschmirschal geschlungen.
»Besuch aus Polen?«
Ich nickte. Früher hätten wir uns in den Arm genommen und kräftig auf die Schultern geklopft. Heute begegneten wir uns wie flüchtige Bekannte, die der Zufall oder auch die Erinnerung in einem Berliner Hinterhof zusammenführte.
»Ja.« Ich nickte ihm zu und sah wieder hoch zu den neuen Kunststoffdoppelglasfenstern, hinter denen einmal die chaotischste Kanzlei der Stadt existiert hatte.
Kevin stellte sich neben mich und tat es mir nach. »Sie ist weg«, sagte er schließlich.
Ich nickte.
»Irgendeine Ahnung, wo sie stecken könnte?«
»Du hast also auch nichts mehr von ihr gehört.«
»Das letzte Mal kam sie zu meiner Abschlussparty«, sagte er. »Da war sie ziemlich durch den Wind. Ich hab noch gefragt, ob irgendwas ist, aber du kennst sie ja. Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Damals ist sie wenigstens noch an ihr Handy gegangen. Ich dachte, sie wäre immer noch hier. Nur wenn ich mich so umsehe … das ist nicht mehr Marie-Luise.«
Schweigen.
»Ja«, sagte ich schließlich.
Kevin riss seinen Blick von den Fenstern los. »Wir sollten sie finden. Nicht nur wegen der merkwürdigen Geschichte, die mir diese Zuzanna erzählt hat. Ich hab einfach zu viel um die Ohren gehabt in letzter Zeit. Und du?«
»Ich auch.«
»Wie geht es dir?«
»Gut. Viel zu tun. Und dir? Was ist mit Kerstii? Seid ihr noch zusammen?«
»Wir sind verheiratet. Das war die Bootsfahrt, zu der ich dich letztes Jahr eingeladen habe. Sollte eine Überraschung sein.«
Er ließ es nebensächlich klingen. Doch ich kannte Kevin.
»Ich werde immer seekrank, sogar auf der Spree«, sagte ich. »Du hättest es mir sagen sollen. Ich wäre gern dabei gewesen.«
»Dann wäre es ja keine Überraschung mehr gewesen.«
Ein paar Regentropfen fielen herab. Wir gingen in unseren alten Hausflur und setzten uns nebeneinander auf die Treppenstufen.
»Und?«, fragte ich. »Was machst du so?«
»Ich arbeite für Green Sun und bin unter die Lobbyisten gegangen. Strafzoll für chinesische Solaranlagen und so ein Zeug. Hartes Brot, aber das ist die Ebene, auf der man noch was bewegen kann. Und du?«
»Ich habe ein Büro am Kurfürstendamm.«
Kevin pfiff halb ironisch, halb bewundernd durch die Zähne.
»Zur Untermiete. Bei einem alten Studienkollegen. Bei größeren Prozessen arbeite ich ihm zu, ansonsten erledige ich den Kleinkram.« Jeden anderen hätte ich angelogen.
Der Mann, der einmal mein Praktikant gewesen war, strich sich nachdenklich über den Bart. »Alles im grünen Bereich?«, fragte er.
Ich nickte. »Ich war zwei Jahre nicht mehr hier. Ich dachte, sie schafft das.«
Wir schwiegen und starrten hinaus in den Hof. Ich glaubte, vergorenes Katzenfutter zu riechen. Doch es waren nur der Regen, der auf die Steine fiel, und der Geruch von Staub, Mörtel und zu schnell getrocknetem Putz. Irgendjemand öffnete das Tor zur Straße. Kunden, Patienten, Mandanten. Wir hörten, wie ein Schirm zusammengeklappt wurde, und dann entspann sich vor unseren Ohren folgender Dialog.
»Es muss hier sein.« Zartes Stimmchen, verwirrt, ein wenig trotzig.
»Nie im Leben.« Mürrisches Knurren, verbiestert, rechthaberisch.
»Ich war doch schon mal da. Als ich Joachim den Anzug gebracht habe. Erinnerst du dich nicht mehr? Ich vergesse keine
Weitere Kostenlose Bücher