Siegel der Nacht: Mercy Thompson 6 - Roman (German Edition)
I m Licht der Straßenlampen konnte ich erkennen, dass das Gras in Stefans Vorgarten von der Sommerhitze zu einem hellen Gelb getrocknet worden war. Der Rasen war gemäht worden, aber nur mit Blick auf die Länge, nicht auf die Ästhetik. Nach der Länge der gemähten Reste zu schließen, hatte der Rasen so lange frei wachsen dürfen, bis die Stadt verlangt hatte, ihn endlich zu mähen. Das restliche Gras war inzwischen so trocken, dass es wahrscheinlich nie wieder gemäht werden musste, wenn nicht bald jemand anfing zu gießen.
Ich fuhr mit dem Golf vors Haus und parkte. Als ich Stefans Haus das letzte Mal gesehen hatte, hatte es sich perfekt in die schicke Nachbarschaft eingefügt. Die Verwahrlosung des Vorgartens hatte noch nicht auf das Haus übergegriffen, aber ich machte mir Sorgen um seine Bewohner.
Stefan war belastbar, klug, und … einfach Stefan – dazu in der Lage, mit einem tauben Jungen in Zeichensprache über Pokemon zu sprechen und scheußliche Bösewichte zu besiegen, während er in einem Käfig gefangen saß, um dann in seinem VW-Bus davonzufahren, um auch am
nächsten Tag wieder gegen das Böse anzutreten. Er war wie Supermann, aber mit Reißzähnen und etwas eigenwilligen Moralvorstellungen.
Ich stieg aus und ging auf die vordere Veranda zu. In der Einfahrt sah Scooby-Doo mich durch eine Staubschicht auf Stefans sonst so sorgfältig gepflegtem Bus erwartungsvoll an. Ich hatte Stefan das riesige Stofftier geschenkt, weil es so gut zur Mystery-Machine-Lackierung passte.
Ich hatte seit Monaten nichts mehr von Stefan gehört, um genau zu sein seit Weihnachten. Ich war ziemlich beschäftigt gewesen und für einen Tag entführt zu werden (was sich für alle anderen als ein Monat herausstellte, weil Feenköniginnen so etwas anscheinend können), war nur ein Teil des Ganzen. Aber im letzten Monat hatte ich ihn einmal pro Woche angerufen und jedes Mal war nur sein Anrufbeantworter angesprungen. Letzte Nacht hatte ich ihn vier Mal angerufen, um ihn zu einem Schundfilm-Abend einzuladen. Uns fehlte noch jemand, nachdem Adam – mein Gefährte, Verlobter und Alpha des Columbia Basin Rudels – geschäftlich unterwegs war.
Adam besaß eine Securityfirma, die bis vor kurzem hauptsächlich für die Regierung gearbeitet hatte. Seitdem die Werwölfe – und Adam – in die Öffentlichkeit getreten waren, erlebte sein Geschäft auch in anderen Bereichen einen Boom. Anscheinend hielt die Welt Werwölfe für herausragende Securityleute. Er suchte bereits nach jemandem, der die ganzen Reisen übernehmen konnte, aber bis jetzt hatte er den Richtigen dafür noch nicht gefunden.
Nachdem Adam nicht da war, konnte ich den anderen Leuten in meinem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich hatte entschieden, dass Stefan genug Zeit gehabt
hatte, sich die Wunden zu lecken, aber so wie es aussah, kam ich ein paar Monate zu spät.
Ich klopfte an die Tür. Als das keinerlei Reaktion auslöste, klopfte ich nochmal den universellen Geheimcode Ta-tatatamtam-tamtam. Ich war bereits zu wildem Hämmern übergegangen, als der Riegel endlich zurückgezogen wurde und die Tür aufschwang.
Ich brauchte eine Weile, bis ich Rachel erkannte. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ausgesehen wie ein Model, das als desillusioniertes Gothik-Mädchen oder weggelaufener Teenager posierte. Jetzt wirkte sie eher wie eine Cracksüchtige. Sie hatte ungefähr fünfzehn Kilo verloren, die sie nie zu viel gehabt hatte. Ihre Haare hingen in fettigen, ungekämmten Strähnen über ihre Schultern. Verblasste Mascara-Spuren zogen sich über ihre Wangen, so dass sie wunderbar in Die Nacht der lebenden Toten gepasst hätte. Sie hatte Verletzungen am Hals und sie bewegte sich als täte ihr alles weh. Ich versuchte, mir mein Entsetzen darüber nicht anmerken zu lassen, dass ihr die letzten zwei Finger an der rechten Hand fehlten. Die Wunde war verheilt, aber die Narben waren noch rot und auffällig.
Marsilia, die Herrin der Vampire im Tri-Cities-Gebiet, hatte Stefan, ihren treuen Ritter, benutzt, um Verräter zu vertreiben. Ein Teil ihres Planes hatte es erfordert, seine Menagerie zu entführen – die Menschen, die er sich hielt, um sich von ihnen zu nähren – und ihn glauben zu lassen, sie wären tot, indem sie seine Blutsbande zu ihm brach. Sie schien zu denken, dass es auch nötig gewesen war, sie zu foltern, aber ich traute keinem Vampir – außer Stefan – zu, dass er tatsächlich die Wahrheit sagte. Marsilia hatte
nicht
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