Verzaubert
wollte ich unter keinen Umständen als weibliche Hauptrolle auftreten, ohne vorher noch einmal alles durchgespielt zu haben. Zum einen hatte es seit meiner letzten Probe als Virtue einige Veränderungen gegeben, und zum anderen wollte ich sichergehen, dass Joe in der Lage war, sich zusammenzureißen, bevor er mich in zwei Hälften sägte, meinen Körper auf einer Schwertspitze balancierte und mit dem Flammenwerfer auf mich zielte. Wenn Schauspieler mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen haben, kann auf der Bühne einiges schieflaufen: Es wurden schon Darsteller erdolcht, mit Requisitenwaffen erschossen, die aus Versehen mit echter Munition geladen waren, oder mit Gurten stranguliert. Dieser Beruf ist gefährlicher, als man vielleicht denkt, und ich war entschlossen, nicht zu jenen Schauspielern zu gehören, über die schon in jungen Jahren ein Nachruf verfasst werden musste.
Meine seelische Verfassung war also recht düster, als ich am Dienstag im Theater eintraf und mir die Regieassistentin drei Zettel in die Hand drückte: Der erste informierte mich darüber, dass Joe tatsächlich heute nicht zur Probe kam. Der zweite wies mich darauf hin, dass an diesem Nachmittag eine Versammlung der Gewerkschaftsmitglieder stattfand, in der die Situation besprochen werden sollte. Na toll! Was das bedeutete, war klar. Die Schauspieler würden zusammenkommen, um sich darüber aufzuregen, dass sie jetzt womöglich alle ihre Jobs verloren. Alle würden leere Drohungen ausstoßen, was sie dem Management antäten, wenn man die Show einstellte, nur weil eine Popsängerin durch unerlaubte Abwesenheit glänzte und ein Magier einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.
Die dritte Nachricht stand auf teurem Papier mit dem Monogramm
M. Z.
Sie war mit schwarzer Tinte in einer eleganten, altertümlichen Handschrift geschrieben worden. Die Nachricht lautete:
Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist,
steigen Sie nicht in die Glaskiste.
Das Böse weilt unter uns.
»Ich bin auf der Suche nach Detective Lopez«, sagte ich dem Sergeant an der Anmeldung. Auf der Polizeiwache ging es genauso chaotisch und laut zu, wie ich es aus Filmen kannte. Nachdem ich die dritte Nachricht gelesen hatte, war ich sofort vom Theater hierhergerannt. Der Sergeant schickte mich in ein Großraumbüro, einem riesigen, unaufgeräumten und überfüllten Raum, der in einen scheußlichen Grün gestrichen war.
Ich entdeckte Detective Lopez sofort. Er saß an seinem Schreibtisch und forderte gerade einen pummeligen Mann mit einer grellen Krawatte auf, ihn in Ruhe zu lassen. Mit wütender Miene ließ der Mann einen Karton auf Lopez’ Tisch fallen und ging. Der Detective sah aus, als wäre ihm nach Weinen zumute. Er senkte den Kopf und schlug ihn ein paarmal auf die Tischplatte. Offensichtlich hatte ich einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt, aber ich war viel zu aufgeregt, um wieder zu gehen.
Ich atmete tief durch und straffte die Schultern. Lopez hob den Kopf und griff nach dem Telefon. Er klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter und begann, den Karton auszupacken. Zum Vorschein kamen verstaubte und zerfledderte Unterlagen mit Eselsohren und Kaffeeflecken – Arbeitsmaterial für ein ganzes Leben. Stirnrunzelnd strich sich Lopez über das Kinn.
Ich durchquerte den Raum und stieß beinahe mit einer Frau zusammen, deren Kostüm einer Prostituierten unheimlich authentisch wirkte. Lopez starrte die ganze Zeit auf den Stapel Unterlagen und bemerkte mich selbst dann nicht, als ich direkt vor seinem Schreibtisch stand. Sein Jackett hatte er über die Rückenlehne des Stuhls geworfen und über dem Hemd trug er ein Schulterhalfter. Mein Blick fixierte die Waffe darin, während der Detective weitertelefonierte.
Er besaß den durchtrainierten Körper eines Sportlers. Lopez musste um die dreißig sein, hatte ein markantes, leicht exotisch aussehendes Gesicht, umrahmt von pechschwarzem, glattem Haar. Seine Augen waren tiefblau. Ich fragte mich gerade, auf welche Herkunft diese Merkmale wohl hindeuteten, als ich beiläufig das Namensschild auf seinem Schreibtisch las: Detective Connor Lopez.
»Connor?«, rutschte mir überrascht hinaus. Er sah nicht aus wie ein Connor. Lopez schaute hoch. Zwar schien er mich nicht wiederzuerkennen, aber da ich seinen Namen ausgesprochen hatte, ging er offenbar davon aus, dass ich zu ihm wollte. Er zeigte auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch. Ich setzte mich.
»Mhm«, sagte er ins Telefon. »Ja … Nein … Um wie viel Uhr? Kannst du es mir
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