Vielen Dank für das Leben
gehört, da müsste man doch etwas machen, spürte sie, wenn sie Toto betrachtete, Toto, die wie ein Geschenk an die Welt war, das keiner haben wollte, so ausgezehrt und leuchtend, da musste doch noch etwas passieren, wusste die Ärztin, denn bald wäre Toto verschwunden und hätte keine Spur hinterlassen, auch die Menschen, die sie seltsam berührt hatte, würden ihr Bild auslöschen, nach einiger Zeit.
Die Ärztin holte all ihre Freunde, unter denen sich bekannte Sänger und Musiker befanden, zu diesen kostenlosen, kostbaren Konzerten. Es ist erstaunlich, sagte ein Musikproduzent, ich habe so etwas noch nie gehört. Und so kam es, dass Toto sich eines Tages in einem Studio vorgefunden hätte, wenn sie denn hätte wahrnehmen können, um was es sich handelte. Es war einfach an der Zeit zu singen, sie hatte sich vorher lang genug hin und her gewiegt, also sang sie. Eine Woche lang wurden ihre Lieder aufgenommen, und den Mitarbeitern des Tonstudios war es peinlich, das Ergriffensein, einige weinten, und auch das war ihnen unangenehm. Man lässt sich doch nicht gerne manipulieren, zu Gefühlsentäußerungen treiben, man mochte diese dem Tod sehr nahe Sängerin nicht, die vielleicht ein Sänger war, diese völlig weggetretene, von Morphium benebelte Person, die war keinem geheuer, und alle waren froh, als die Aufnahme beendet war.
Toto hatte nichts davon bemerkt. Sie saß wieder in ihrem Zimmer, auf dem Bett, sie wiegte sich hin und her und ging in ihrem Leben spazieren. Das brachte sie zum Lachen, dieses unendlich komische Dasein, das sie geführt hatte. Was für eine alberne Geschichte. Da waren Kühe gewesen, und der Osten, Traktoren und eine alte Frau, ein junger Mann aus einem asiatischen Land, alles geriet durcheinander, alles war eins, alles war ein kleiner Witz gewesen.
Und dann wachte Toto auf, kurz immer nur, aus dem angenehmen Dämmer, und die Luft roch nach Akazien, draußen, woher, das wusste sie nicht zu sagen, vielleicht war es ein künstliches Aroma, oder irgendein Baum hatte überlebt. Und mit dem Duft kam eine Trauer, und ohne dass sie irgendeinen Muskel bewegen musste, liefen Toto die Tränen, und ohne dass sie eine einzige hätte aufhalten können. Du dummes kleines, verschenktes Leben, in dem doch keiner, den sie getroffen hatte, unschuldig gewesen war. Du blödes kleines Leben, mit deinem Geruch nach allem möglichen, nach Erde und Holunder, oder nach Wasser auf sonnenheißen Steinen, und das ist nun bald alles weg, und unschuldig ist doch keiner gewesen. Du kurzes kleines Leben, in dem es keinem gelingt herauszufinden, wie man dich ohne Schaden übersteht, du einzige Kränkung, du einziges Vorführen der eigenen Unwichtigkeit, da empfindet doch keiner einen Respekt für all die Anstrengungen und die Schläge und die Krankheiten und die Ängste, und dann ist da nicht mal einer gewesen für Toto. Nicht mal einem einzigen Menschen ist sie wichtig gewesen, ist sie das Universum gewesen, es ist, als hätte es sie nie gegeben, so ohne Spur auf der Welt.
Dann kam die Pflegekraft und reichte eine Tablette nach, dann ging es wieder, dann sang sie wieder, am Fenster stehend, in die Akazienluft, und es machte die Gäste des Heimes ruhig, sie zu hören, aber auch traurig in einer Art, die all das Begreifen in sich trug um den vertanen Augenblick auf der Welt. All die verpassten Kindheiten, all die Flüsse, die man nie gesehen, all die Länder, die man nie bereist, all die Bücher, die man nie gelesen hat.
Der Welt, der war das egal. Ob da ein paar Menschen traurig sind, die ihren Platz nicht gefunden haben, nirgends, ob da jemand traurig ist oder zornig, weil es nicht noch einen zweiten Durchlauf geben wird, ob da eines steht und singt, um sich dann erschöpft auf ein Bett zu legen, in einem gütigen Drogennebel.
Toto sah auf das Bild, das an der Zimmerdecke schwebte. Sie sah sich, umgeben von Akazien und Holunder auf einer schattigen Landstraße, die es irgendwann einmal gegeben hatte. Ein Sommertag ist es, die Apfelbäume blühen, und über der Wiese hört man die Bienen. Schafgarbe, Butterblumen, Rittersporn und Klee. Der Teer ist warm. Alle sind gekommen, alle, deren Leben Totos Leben gestreift hat, alle stehen da und weinen, dass es albern ist. Hört doch auf zu weinen, sagt Toto, ich ruhe mich nur schnell ein bisschen aus. Und dann liegen wir zusammen auf der Wiese und überlegen uns, wie wir noch mal anfangen, und es besser machen, nur hört auf zu weinen.
Um 13 Uhr 50 hörte Toto auf zu
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