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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Kiewer Pädagogischen Instituts galt, Lida von der Fakultät für Defektologie, wie bei uns die Heilpädagogik immer noch heißt, als ich Lida erlebte, die aus den Fotos dieser Zeit ruhig und etwas lässig auf uns herabschaute, war sie ein schlurfendes Wesen in einer Schürze, das jahrelang nichts sagte, nur servierte, ein Gericht nach dem anderen, in die Küche und wieder zurück, auf Tellern mit goldenem Rand. Esst! Sie war die letzte in der Familie gewesen, die taubstumme Kinder unterrichtet hatte, sie kannte das Geheimnis, sie kannte die Geduld, schweigend kochte sie, und nun war sie weg.
     
    Lange Zeit verstand ich nicht, was EBP . KBAC bedeutete, so stand es ganz oben auf dem Zettel, ich starrte auf dieses EBP , denn die kyrillische Abkürzung hätte genauso gut als EBPопейский, JEW ropejskij, europäischer, wie als EBPейский, JEW rejskij, jüdischer Kwas verstanden werden können – eine unschuldige Utopie der russischen Sprache und das Urbi et Orbi meiner Tante, als ob Europa und die Juden aus einer Wurzel stammten und hier in diesem Rezept und in dieser Abkürzung die erfrischende Hypothese steckte, dass alle Juden, auch die, die gar keine Juden mehr waren, sich zu den letzten Europäern zählen dürfen, schließlich haben sie alles gelesen, was Europa ausmacht. Oder wollte meine Tante das Wort jüdisch nicht ausschreiben, weil das Unvollständige und Abgekürzte noch eine andere Option des Lesens offenließ, zum Beispiel, dass dieser Trank doch nicht so ganz jüdisch sei, sondern nur andeutungsweise, nur ein bisschen, trotz des Knoblauchs.
     
    Das Rezept entpuppte sich als eine Art verschlüsselte poetische Übung. Ich hatte nie wahrgenommen, dass meine Tante etwas Jüdisches an sich hatte, sie hatte wirklich nichts davon, außer dass sie diese Gerichte kochte, die ich erst nach ihrem Tod zuordnen konnte, und ich verstand, dass ausgerechnet sie, die nichts mit dem ganzen Schmerz zu tun haben wollte, dass man Jude sagt und sofort an Gräber denkt, und die, weil sie noch lebte, keine Jüdin sein konnte, dass ausgerechnet sie alles Schmackhafte und Saftige von ihren damals noch jüdischen Großeltern gelernt und vieles übernommen hatte, was selbst ihre Mutter schon nicht mehr kannte. Nun gehörten gefilte Fisch, Strudel, Vorschmack für Lida zu ihrer ukrainischen Küche.
     
    Zutaten:
    Ein großes Salatbündel
    Eine große Knoblauchknolle
    Ein großer Strauß Dill
     
    (Hier fehlt eine Zeile)
    Du kochst Wasser und lässt es auf Zimmertemperatur abkühlen.
    Du wäschst den Salat, dann schneidest du Wurzel und Stengel ab, dann schneidest du alles klein und schälst den Knoblauch.
     
    Diese Epistel wendete sich an mich. Wer schreibt Rezepte in Form einer Anrede in leicht pathetischem Ton?
     
    Den Dill sollst du waschen und schneiden.
    Dann vermischst du alles und legst es in ein Dreiliterglas.
     
    Hatte Tante Lida mit diesem Du mich gemeint oder alle Menschen?
     
    Das Dreiliterglas, trjochlitrowaja banka , verunsicherte mich noch mehr. Denn zwischen der Küche dort, mit ihrem Dreiliterglas für das Aufbewahren von Salzbrühen, ihrem Mull für das Abseihen der Brühe, ihren gusseisernen Pfannen, und der Küche hier liegt eine Generation von Gegenständen. Wo kauft man in Berlin Mull? Dort haben wir kleine Lappen und verwaschene Tücher und Mull, Kupferbecken und Holzlöffel für das Pflaumenmus, die irgendwann einmal gekauft worden waren, und wenn man fragte wann, dann wurde gesagt, nach dem Krieg.

     
    Sie hat alles verschwiegen, und mit ihr sind all ihre Strudel, gefilte Fisch, ihre süßen Würste mit Rosinen verschwunden, ihre Kekse, die mit getrockneten Pflaumen, die mit Honig, Zitronen und Nüssen, und auch das Wort Zimmes nahm sie mit, als ob tatsächlich alles ein Geheimnis bleiben
sollte. Sie verschwieg alles, ihre frühere Schönheit, ihre Belesenheit, sie verschwieg alles, im Dienst ihres Mannes, eines Kriegshelden, eines siebenmal Durchschossenen, eines der Schönsten unter den Helden, sie verschwieg ihre Krankheiten und Sorgen, ihre Lehrmethoden, ihre zunehmende Taubheit, wenn sie in die Küche ging und zurück, sie verschwieg die Geburtstage der Toten, die Geburtstage der Getöteten, die sie jahrzehntelang feierte, allein, sie verschwieg auch andere Daten, sie erinnerte sich an alles und an alle, die sie im Leben berührt hatten, sie verschwieg den Krieg und das Davor und das Danach und all die Züge und all die Städte, die Trauer um ihren Vater, der den Krieg überlebte,

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