Vielleicht Esther
Stanisław Geller und bekannte mich hier, in der Katyńer Kapelle der Militärkirche, zu allen Namensvettern, auch zu jenem Stanisław, als ob er und alle, die ich noch finden werde, ebenfalls zu meiner Familie gehörten, alle Gellers und Hellers, alle Krzewins und Sterns. Jeder Stern schien mir ein geheimer Verwandter zu sein, auch die am Himmel.
Vor Jahren, als ich in New York war, blätterte ich in den Yellow Pages, einem alten Telefonbuch. Wo sind die Geschwister meines Großvaters? Wo sind die Geschwister seines Vaters, die Stern hießen und aus Odessa in alle Richtungen verschwunden waren? Sangen ihre Nachkommen bei Velvet Underground? Hatten sie eine Bank? Unterrichteten sie in Massachusetts am MIT , oder arbeiteten sie immer noch in einer Schuhfabrik? Jemand muss schließlich auch arbeiten.
Es gab viele Sterne in den Gelben Seiten. Acht volle Seiten. Gelbe Sterne im Telefonbuch. Sollte ich jeden von ihnen anrufen und fragen? Was haben Sie vor 1917 gemacht? Warten Sie immer noch auf die armen Verwandten aus dem Osten? Auch nach hundert Jahren noch? Und die Berühmtheiten, soll ich sie in meine Liste aufnehmen, oder sie mich in ihre?
Wer hat mir erzählt, dass einer unserer Levis Buchhalter in einer Knopffabrik in Warschau war? Ein anderer Levi machte die Jeans 501, die besten, die ich kannte, damals, als ich mit meiner Suche begonnen hatte. Er war bestimmt keiner von uns, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand von den Meinigen überhaupt einen Geschmack am Gewinn gehabt haben konnte oder eine Ahnung davon, wie man sich Vorteile verschafft. Als ich immer weiter über die Knopffabrik in Warschau oder sonst wo nachdachte, wuchs meine Überzeugung, dass es niemand von denen, die in Polen geblieben waren, auf eine solche Liste geschafft haben konnte.
Mir fiel eine Rettungsliste ein, aus einem Film, ich ging sie durch, als ob es möglich wäre, dass jemand von den Meini
gen dort aufgeführt sein könnte und also gerettet, aufgetaucht aus dem Internet. Ich las einen Namen nach dem anderen, als sei es eine Suche nach Gewinnzahlen, als könnte ich jemanden wiedererkennen.
Kein Levi, kein Krzewin, ich hatte aber einen Itzhak Stern gefunden, ebenfalls Buchhalter, allerdings in einer Fabrik in Kraków, kein Verwandter von mir, denn meine Sterne waren in Odessa, und wenn sie nicht schon lange davor ausgewandert waren, machten sie Revolution im Untergrund, aber einen Krieg später gab es für sie in Odessa keine Rettungsaktionen und keine Listen mehr. Soll ich diesen Stern trotzdem auf meine Liste nehmen, weil die anderen nicht ausfindig zu machen sind? Oder wäre das versuchter Diebstahl?
Es gibt, bekanntlich, Spiele ohne Sieger.
Hallo, ich bin der Joe, und ich arbeite in einer Knopffabrik.
Neulich kam mein Chef vorbei und fragte, ob ich beschäftigt sei.
Ich sagte nö.
Da sagte er:
Dann dreh den Knopf mit der rechten Hand.
Hallo, ich bin der Joe …
Das Rezept
Die Erkenntnis, dass die Menschen gingen, traf mich unvorbereitet, legte sich über mich wie ein Schatten, bedeckte mich wie das Becken, das sich Don Quichotte irgendwann als Helm auf seinen Kopf gesetzt hatte und in dem, Jahrhunderte später, meine blinde Babuschka Pflaumenmus kochte. Nun stand das Becken seit Jahren verstaubt auf dem Küchenschrank.
Als Lida, die ältere Schwester meiner Mutter, starb, habe ich begriffen, was das Wort Geschichte bedeutet. Mein Verlangen zu wissen war reif, ich war bereit gewesen, mich den Windmühlen der Erinnerung zu stellen, und dann ist sie gestorben. Ich stand da mit angehaltenem Atem, bereit zu fragen, und so bin ich stehen geblieben, und wäre es ein Comic gewesen, wäre meine Sprechblase leer. Geschichte ist, wenn es plötzlich keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen. Ich hatte niemanden mehr, den ich hätte fragen können, der sich an diese Zeiten noch erinnern konnte. Was mir blieb: Erinnerungsfetzen, zweifelhafte Notizen und Dokumente in fernen Archiven. Statt rechtzeitig Fragen zu stellen, hatte ich mich am Wort Geschichte verschluckt. War ich nun erwachsen, weil Lida tot war? Ich fühlte mich der Geschichte ausgeliefert.
Das einzige, was ich von Tante Lida habe, ist ein Rezept für Kwas, einen erfrischenden Trank. Das Rezept ist mir vor kurzem aus einem Haufen unbezahlter Rechnungen in die Hände gesprungen, als ob ich auch bei Lida Schulden
hätte. Als ich Tante Lidija, Lida, wie wir sie nannten, die nach dem Krieg als antike Schönheit des
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