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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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hier auch Dichter, vielleicht hatten sie den Tod betrügen wollen und wurden nun dafür bestraft.
     
    Ich sah den Gipfel des Hügels, spürte das Gewicht, dachte an die Gefahr und fing an, meinen Stein hinaufzuwälzen, aber meine Geschichten hatten den Ort nicht erfasst, ich konnte nichts erzählen, auch nicht, dass das Gelingen einem Menschen hier nicht gestattet ist. Es ergab keine Summe und keinen Sinn. Warum lassen wir den Stein nicht liegen?
     
    Als wir gingen, war die Gedenkstätte schon geschlossen, und ein älterer Mann in weißem Unterhemd lief uns entgegen, erst die Denkmalmeile entlang, an allen dreißig
Nationen vorbei, dann die Todesstiege hinunter und die Todesstiege hinauf, vorbei an der steinernen Rutsche für die toten Kinder und wieder an den Denkmälern entlang zurück in den Ort, weg von dem schönen Hügel. Er läuft hier jeden Tag, sagte Wolfgang.
    Der Todesmarsch der fremden Verwandten
    Es war ein Tag ohne Datum, als die Kolonne der ungarischen Juden Gunskirchen erreichte, zwanzig Tage bis Kriegsende, sechzehn bis zur Befreiung oder noch weniger. Nachdem ich erfahren hatte, dass mein Großvater dort war, wohin sie gingen, konnte ich die Augen nicht mehr von ihnen abwenden, Mauthausen – Gunskirchen, 55,2 Kilometer, Todesmarsch.
     
    Frauen, Kinder und Alte, ungarische Soldaten, die auf der deutschen Seite in Stalingrad gekämpft hatten, Hochschulprofessoren, Rechtsanwälte, eine nicht enden wollende Kolonne von Juden , wie ein Pfarrer aus Gunskirchen schrieb, als stünde es in ihrem Willen, ob es ein Ende hat. Manche waren den ganzen Weg aus Ungarn zu Fuß gegangen, begleitet von ungarischen Gendarmen, mit Marschieren hatte es wenig zu tun.
     
    Im Archiv fand ich Berichte von österreichischen Beamten, von Amerikanern, die ein unbekanntes Lager im Wald entdeckt hatten, und die Materialsammlung eines Historikers aus Linz. Nach 25 Jahren war er die Strecke des
Marschs noch einmal abgelaufen und sprach mit allen, die er antraf, mit Bauern, Priestern, Menschen, damals noch Kindern, er beschreibt Kirchen, Straßenwindungen und Friedhöfe. Er erzählt von Bauern, die sterbende Menschen hatten vorbeigehen sehen, es war ihnen verboten zu helfen, sogar sie anzuschauen war verboten, damals wurden gerade Kartoffeln gepflanzt, und die Bauern warfen heimlich Essen auf den Weg oder steckten es in die Zäune, die Juden waren scharf auf Zwiebeln, berichtet eine Frau, ich konnte sie ihnen nicht in die Hand drücken, ich warf ihnen die Zwiebeln hin, aber einer der Wachmänner sagte mir, dass er auch mich erschießen könne, ein Mädchen denunzierte Juden, die sich auf dem Friedhof versteckt hatten, und ein anderes Mädchen staunte darüber, dass diejenigen, die nicht mehr gehen konnten, nicht nur erschossen, sondern auch erschlagen wurden in dieser schönen Gegend, ein Mann, der mit seinem Fuhrwerk die Leichen einsammeln musste, erinnerte sich an die Zahlen, und wieder Frauen und Kinder und die anderen Frauen und Kinder, die zuschauten, und eine Frau erzählte, dass keine Blätter mehr an den Bäumen hingen, nachdem sie vorbeigegangen waren, und ich erinnere mich auch an Pflaumen, ich erinnere mich sogar an einen jungen deutschen Wachmann, der Pflaumen für die Juden pflückte, aber es war im April, das musst du doch wissen, es gab keine Pflaumen und auch keine gute Tat, ein kleiner Junge versuchte, seinen niedersinkenden Vater zu tragen, aber oft fehlt das Ende dieser Erzählungen, die Bauern hörten nicht alle Schüsse, und ich las und las, bis sie angekommen waren, genau dort, wo mein Großvater schon war, in Gunskirchen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er die Ankommenden wahrnahm und was
danach passierte, aber es gelang mir nicht, und ich las dann noch die Übersetzungen aus dem Ungarischen, Wir haben aber trotzdem einen guten Platz bekommen, Onkel Geza hat ihn erkämpft , bis ich irgendwann auch das nicht mehr konnte, mein seelischer Speicher war voll mit den Toten im Wald, und ich fing an, die losen Blätter zu kopieren, denn Geräte sind bekanntlich dazu da, unsere Unfähigkeiten zu eliminieren, oder eher, unsere Fähigkeiten zu erweitern, und ich kopierte, als hätte ich durch das Kopieren irgend jemandes Leben verlängern oder gar vervielfältigen können, ich schaute nicht einmal auf die Blätter, dort waren Bilder, die nicht für mich bestimmt waren, ich schaute nur kurz hin und war sicher, dass ich sie nie wieder anschauen würde, aber ich brauche sie!, und drückte auf den Knopf, so

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