Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Der Sprecher warnt davor, ohne Not das Haus zu verlassen. Ich will
heute bis Gemünden am Main laufen. Das sind achtundzwanzig Kilometer!
Als ich nach dem Frühstück loslaufe,
sehe ich die Prognose voll bestätigt. Es regnet wie aus Kübeln. Der starke
Gegenwind läßt die dicken Tropfen mit Wucht gegen meine Brust schlagen. In
Ungarn, in meiner früheren Heimat, würde man sagen, es ist ein Wetter, bei dem
der Bauer seinen Köter im Arm nach draußen trägt, damit er den Fremden anbellt.
Wenige Kilometer reichen, und ich bin
klatschnaß, über der Regenkleidung und darunter. Seit ich lebe, schwitze ich.
Aus diesem Grund sind die Unterhemden und Hemden, die ich jetzt trage,
Hitech-Produkte, die die Nässe nach außen transportieren, wo sie wegtrocknen
kann. Da diese Kleidungsstücke dabei selbst ständig feucht sind, brauche ich je
nach Temperatur einen Schicht mehr oder weniger, damit ich weniger friere. Dies
funktioniert so lange, wie es nicht regnet. Wenn es richtig losgeht, hilft nur
ein Regencape. Das verhindert allerdings nicht nur, daß das Regenwasser von
außen nach innen dringt, sondern läßt das Schwitzwasser auch nicht von innen
nach außen. Es sammelt sich an der Innenseite des Plastikstoffes in so großen
Mengen, daß ich mein Hemd danach auswringen kann.
Das Sinntal ist landschaftlich schön,
allerdings etwas verbaut. Außer der mäßig befahrenen Landstraße und einem
Fahrradweg gibt es hier noch zwei starkbefahrene Bahnlinien: die alte
Hauptstrecke Fulda-Würzburg und die neue ICE-Linie; dazu kommen noch mehrere
Hochspannungsleitungen, so daß von der Naturschönheit nicht viel übrigbleibt.
Viel könnte ich jetzt allerdings auch
nicht sehen. Meine Kapuze habe ich tief über die Augen gezogen, meinen Kopf
stark nach vorne geneigt, damit möglichst wenig Wasser gegen mein Gesicht
schlägt. Der Regen ist jetzt wolkenbruchartig. Gestern abend in dem Gasthaus
hätte ich mich gefreut, wenn das Wasser aus der Dusche nur halb so stark
gelaufen wäre wie jetzt vom Himmel. Als es dann auch noch zu blitzen und zu
donnern anfängt und ich mich mit meinen metallenen Wanderstöcken auf einer
offenen Wiese befinde, bekomme ich Angst. Die Sache wird langsam unheimlich.
Seit geraumer Zeit kreist ein
Hubschrauber über mir, mal höher, mal tiefer. Dann ist er weg.
Mein Regencape reicht nur bis zum Knie,
knieabwärts bin ich so naß, als ob ich in tiefem Wasser waten würde. Der Stoff
der Hose zieht das Wasser hoch, und ich merke, wie mein Hintern und auch das
Vorne kalt und naß werden. Jetzt hört aber der Spaß langsam auf!
Plötzlich hupt jemand hinter mir. Was
ist los? Das ist doch ein Fahrradweg, hier darf gar nicht gefahren werden!
Doch, sie dürfen. Zwei VW-Busse vom Bundesgrenzschutz fahren im Schrittempo
hinter mir her. Ich mache Platz. Sie überholen mich, bleiben aber nach wenigen
Metern stehen. Die in den Fahrzeugen sitzenden Beamten, etwa zwölf an der Zahl,
erwidern meinen Gruß und denken sich ihr Teil.
Es ist spät am Nachmittag, als ich
Gemünden am Main erreiche. Der Gasthof ist schnell gefunden. Ich bin gerettet!
Wieder ist alles, was ich mithabe, völlig durchnäßt. Meine ausgepackten Sachen
belegen bald jede freie Fläche in dem Zimmer.
Ich habe unter meinem linken Fußballen
eine große, schmerzende Blase. Ich hoffe, daß sie mir morgen beim Weiterlaufen
keine größeren Probleme macht.
Am Abend schalte ich den Fernseher ein.
Die Nachrichten berichten darüber, daß am morgigen Tag Atommüll von Bayern nach
Niedersachsen transportiert werden soll. So ist das also! Jetzt verstehe ich
erst, was die heutige Hubschraubershow und der danach folgende Besuch der
Grenzschützer auf sich hatte! Ich, ein einsamer Wanderer in roter
Regenpelerine, bin ein Sicherheitsrisiko gewesen!
Mittwoch, am 26. Februar
Von Gemünden am Main nach Sendelbach
Heute nachthabe
ich geträumt, daß ich auf einem Stadtfest gewesen bin, auf dem ein Freund von
mir, in Dirndl gekleidet, Bier ausgetragen und die Männer abgeküßt hat.
Es hat die ganze Nacht weiter geregnet,
aber als ich nach dem Frühstück Gemünden über die Mainbrücke verlasse, reißt
die Wolkendecke auf, und sogar die seit Tagen vermißte Sonne läßt sich wieder
blicken. Der Fluß ist angeschwollen, die trübe Brühe wird durch den gegen den
Strom wehenden Wind aufgepeitscht. Allerlei Gerümpel schwimmt mit: halbe Bäume,
viel Plastik, Bretter, Behälter. Der Wind ist so stark, daß ich mich kaum auf
dem Brückengehweg halten kann.
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