Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
befürchtete, daß sie bald samt Fensterscheiben eingedrückt würden und ich
den Rest der Nacht in der Badewanne verbringen müßte. Die Regengüsse schossen
mit Urgewalt gegen die Hausfassade, als ob die freiwillige Feuerwehr mit einem
dicken Rohr dagegen gehalten hätte. Im Halbschlaf frage ich mich, wie ich von
hier überhaupt wegkomme. Am Morgen ist der Spuk vorbei. Es ist zwar bewölkt und
kalt, aber der Wind ist schwächer geworden. Ich verlasse das Dorf auf einem
Feldweg, der hoch zum Waldrand führt. Hier oben sehe ich das erste Zeichen der
Volksfrömmigkeit auf meinem Pilgerweg. Bis jetzt bin ich weder einem Wegkreuz
noch einer Feldkapelle begegnet, und so freue mich, hier eine Votivgrotte aus
Sandstein zu finden.
Etwas weiter, vor der Ortschaft
Kämmerzell, steht am Waldrand eine Wallfahrtskapelle, dem heiligen Rochus
gewidmet. Für mich als Pilger ist dieser Heilige von besonderer Bedeutung. Der
hl. Rochus, ein Franzose, der im 14. Jahrhundert lebte, nahm sich während
seiner Pilgerreise nach Rom der Pflege der Kranken an, als in Oberitalien eine
verheerende Pestepidemie wütete und andere Pilger ihre Reise unterbrachen und
flüchteten. Dabei bekam er selbst die Pest und fand niemanden, der ihn gepflegt
hätte. So zog er sich in einen Wald zurück, in dem er von einem Engel gesund
gepflegt und von einem Hund, der ihm täglich Brot brachte, ernährt wurde.
Später ereilte ihn der Schicksal fast aller Heiligen. Als er nach Jahren in
seine Heimatstadt Montpellier zurückkehrte, wurde er als Spion ins Gefängnis
geworfen, wo er starb. Da aber sein Leichnam in himmlischem Licht erstrahlte,
wurde er heilig gesprochen. Er wird in der kirchlichen Ikonologie als Pilger
dargestellt, der mit dem Zeigefinger auf die Pestwunde an seinem linken Bein
deutet. Neben ihm steht ein Hund mit einem Brot in der Schnauze. Früher wurden
viele Krankenhäuser, besonders Seuchenspitäler, nach ihm benannt.
Bald erreiche ich die Vororte von
Fulda. Doch bevor ich mich darüber freuen könnte, merke ich, daß ich meine
Kopfbedeckung, eine sehr gute und teure Sportmütze, verloren habe. Glücklicherweise
fällt mir sofort ein, wo ich sie liegengelassen habe: auf einer Sitzbank heute
früh neben der Mariagrotte. Die liegt jetzt allerdings vierzehn Kilometer
hinter mir.
Es ist erst 14 Uhr, noch früh am Tag.
Ich will mit dem Zug oder Bus nach Michelsrombach zurückfahren und die Mütze
holen. Am Hauptbahnhof bekomme ich die Auskunft, daß es ohne Schwierigkeit
möglich sei, nach Hamburg oder nach München zu fahren und noch heute abend
wieder hier zu sein, nicht aber nach dem vierzehn Kilometer entfernten
Michelsrombach. Wenn ich heute nachmittag hinfahre, kann ich erst morgen mittag
wieder hier sein. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als meiner
Lieblingsmütze „Lebewohl“ zu sagen.
Auch in Fulda bin ich in der großen
Jugendherberge der einzige Gast. Das Haus gleicht einer Baustelle: In dieser
ruhigen Zeiten werden nötige Renovierungsarbeiten durchgeführt.
Freitag, am 21. Februar
In Fulda
Die Renovierungsarbeiten sind auch
nötig:Als ich morgens das Fenster öffne, fällt mir das
schwere Doppelscheiben-Kippfenster auf den Kopf. Über meinem rechten Auge
wächst eine Beule, und an meinen beiden Händen ist die Haut abgeschürft. Auch
mein Brillengestell ist völlig verbogen.
Ich merke, daß meine verlorene Mütze
mich weiter beschäftigt. Meine Vergeßlichkeit ärgert mich schon genug, aber die
Erkenntnis, daß eine Strecke von vierzehn Kilometern für mich im Augenblick
eine unüberwindbar große Entfernung ist, beunruhigt mich. Ich vermisse mein
Auto. Ich möchte damit gar nicht fahren, aber so ein kleines Taschenauto im
Rucksack, für alle Fälle, das würde mich schon sehr beruhigen.
Ich laufe in die Stadt, lasse meine
Brille reparieren, besorge mir eine neue Mütze, eine Wanderkarte, ein Handtuch,
Ansichtskarten. Meine Freunde sollen gleich erfahren, daß ich schon hundertzwanzig
Kilometer weit gelaufen bin!
Ein architektonisches Schmuckstück ist
die nördlich des Domes stehende Michaeliskapelle. Den Kern des Kirchleins
bildet eine karolingische Rotunde aus dem 8. Jahrhundert. Auch die übrigen später
angebauten Neben- und Überbauten sind kaum zweihundert Jahre jünger. Es ist ein
Glücksfall, daß dieses wunderschöne sakrale Menschenwerk die Zeiten von etwa
vierzig Generationen unverändert und unbeschädigt überdauert hat. Hier fühle
ich mich geborgen, geschützt, gottnah. Ich verweile in einem
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